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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Personen. Bei Menschen nämlich, die so angefüllt waren mit negativer, schädlicher Energie, dass sich diese auf sie selbst übertrug, wenn sie mit ihnen eine körperliche Verbindung einging. Später, auf ihrer alptraumhaften Irrfahrt an Zorbachs Seite, hatte sie gelernt, dass es ihr nur dann gelingen konnte, Kontakt mit der inneren Seelenwelt eines fremden Menschen aufzunehmen, wenn sie ihn unter Schmerzen berührte.
    Deshalb hatte sie sich eben die Zehen geprellt.
    Im Augenblick allerdings sah, hörte oder fühlte sie nichts außer dem dumpfen Pochen in ihrem Fuß und dem beißenden Licht, in dem sie stand. Fast war sie erleichtert, denn all diese Sinneseindrücke waren durch ihre Selbstverletzung zu erklären.
    Ich bin sensibel, aber nicht verrückt.
    Wie gerne hätte sie daran geglaubt. Wie gerne hätte sie ihre Sachen zusammengepackt, den Vollzugsbeamten ein Zeichen gegeben und Stoya mit achselzuckendem Bedauern mitgeteilt, dass sie nichts »gesehen« habe. Doch dieser Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Denn plötzlich lichtete sich der Nebel vor ihrem inneren Auge, und im gleichen Atemzug hörte sie …
    Ich höre Musik?
    Sie erkannte die eingängige Melodiefolge bereits nach den ersten Takten.
    Let me take you on a trip
    Around the world and back
    Es war eines ihrer Lieblingslieder, und dennoch wollten ihr im Augenblick weder der Titel noch der Name der Band einfallen, was nicht weiter verwunderlich war in Anbetracht all dessen, was als Nächstes passierte. Zuerst kamen die Löcher. Unsichtbare Hände zerrissen die Lichttapete vor ihrem inneren Auge und legten dahinterliegende Schatten frei. Alina spürte nicht mehr, wie ihre Hände von Sukers Schlüsselbein nach unten zu seiner Wirbelsäule wanderten. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Bilder zu beobachten, die sich ihr plötzlich zeigten. Wie damals beim Augensammler schien sie auch jetzt in die Welt ihres Patienten hinüberzugleiten. Eine Welt, die sich ihr erst nach und nach offenbarte und deren Konturen immer mehr Gestalt annahmen, wie bei einem Foto im Entwicklungsbad.
    Eine Wand. Weiß. Sie fühlt sich grob an, billig laminiert wie die meines alten Kellerschranks. Und ich höre Musik. Echte, ehrliche Musik, wie John sagen würde, auch wenn sie aus Lautsprechern kommt, die noch billiger sein müssen als die weiße Pressspanwand, gegen die ich lehne.
    And you won’t have to move
    You just sit still
    Einen Moment sah sie rote Funken aufstieben wie bei einem Kamin, in dem ein durchgebranntes Stück Holz in sich zusammenfällt, dann konnte Alina ihre Umgebung noch deutlicher ausmachen. Später, wenn sie in Ruhe darüber nachdachte, würde sich ihr logischer, rationaler Verstand weigern, daran zu glauben, sie könne tatsächlich in Sukers Seele vorgestoßen sein und die Welt mit seinen Augen »gesehen« haben.
    Ein Psychiater, den sie nach der Nachricht von Zorbachs Tod aufgesucht hatte, hatte von Visionen und Halluzinationen gesprochen. Sie bevorzugte die Bezeichnung Tagträume oder Erinnerungen. Letzteres traf es am besten.
    Erinnerungen.
    Wie in ihren Träumen konnte sie nie etwas erkennen, das sie in ihrem Gedächtnis noch nicht abgespeichert hatte, und da sie bereits als Dreijährige erblindet war, gab es nur sehr wenige optische Erinnerungen, die im Laufe der Zeit noch nicht verblasst oder verschwunden waren. Sie hatte noch nie ein Handy, eine Gameshow oder den Eiffelturm gesehen, wohl aber eine Toilettenschüssel, auf deren Rand sie gerade balancierte.
    Ich stehe auf einer Toilette und lehne an einer weißen, laminierten Wand. Nein, ich lehne nicht daran. Ich ziehe mich zum Licht. Ich hangele mich nach oben.
    Sie hatte das dringende Gefühl, blinzeln zu müssen.
    Meine beiden Hände liegen auf der oberen Kante der Wand, meine Füße stemmen sich gegen den Rand der Toilette, und ich sehe …
    Die Musik wurde lauter, und gleichzeitig verschwanden ihre Füße …
    … nein, nicht meine, sondern …
    Die Beine verschwanden aus ihrem Blickfeld. Dafür sah sie …
Haare. Rotblonde, naturgelockte Haare.
    Wie immer waren es die Haare …
meiner Mutter. Verdammt.
    Nach dreiundzwanzig Jahren fast vollständiger Blindheit waren Alina nur noch die Gesichter zweier Menschen im Gedächtnis geblieben. Das ihres Vaters und das ihrer Mutter. Als sie ein Teenager war, hatte sie noch eine ungefähre Vorstellung davon gehabt, wie ihr Bruder einmal ausgesehen haben musste. Aber mit der Zeit war sein Bild vor ihrem inneren Auge verschwommen und hatte sich

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