Der Augenjäger / Psychothriller
allein im Nichts auf einem ausladenden Ledersessel, der bislang in der Luft zu schweben schien. Nun aber, da sie die Dielen unter Roths Füßen knarren hörte, korrigierte sie diesen Eindruck. Er stand womöglich doch auf sicherem Boden.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich toleriere diese Form der Gewalt ganz und gar nicht. Aber die Beamten mussten einfach auf Nummer sicher gehen.«
»Worauf?«
»Dass Sie wirklich Alina Gregoriev sind. Sie haben es gewiss nicht bemerkt, aber man ist Ihnen schon seit dem S-Bahnhof gefolgt. Ihrem Beschatter fiel auf, wie selbstsicher Sie sich auch auf widrigstem Gelände bewegten.«
»Mein Beschatter?« Alina musste unwillkürlich blinzeln.
Das wird ja immer besser hier.
»Ja. Ihm kamen Zweifel, ob Ihre Blindheit vielleicht nur gespielt ist. Die Überwachungskameras am Eingang zeigten zudem, wie zielsicher Sie genau vor der Hausnummer 7 stehen blieben. Schließlich zoomte der Einsatzleiter näher und erkannte, dass Sie eine Perücke tragen. Es tut mir sehr leid, hier steht viel auf dem Spiel, also musste man sichergehen, dass Sie keine Unbefugte sind, die das Gelände ausspionieren will. Deshalb wurde Ihr Ausweis konfisziert, und Ihre Fingerabdrücke wurden überprüft.«
»Moment mal …« Alina erinnerte sich daran, wie ihre Hand auf die Glasscheibe gepresst worden war. »Wollen Sie mich verscheißern oder bin ich bei der Behindertenausgabe von Versteckte Kamera? Ich habe ein GPS in meinem Telefon und taste mich mit einem Blindenhund voran, der darauf trainiert ist, mich zu führen. Apropos …« Ihr wurde kalt. »Was haben Sie mit ihm gemacht. Wo ist TomTom?«
»Keine Sorge, er knurrt ununterbrochen und fletscht die Zähne, aber ansonsten geht es ihm gut. Dank der Haltebügel war er leicht einzufangen. Jetzt wartet er angeleint vorne im Haupthaus auf Sie.«
»Bringen Sie ihn mir, sofort!«
»Das geht nicht. Hunde sind im klinischen Bereich des Gebäudes leider nicht gestattet.«
»Klinik? Ich bin hier in einem Krankenhaus?«
»Unter anderem ja, aber nicht in einem gewöhnlichen.«
Sie lachte höhnisch auf. »Ach ja? Sie meinen wohl, keines von der Sorte, in das man freiwillig geht.«
»Ganz genau«, erwiderte Roth Alinas sarkastische Bemerkung, und auf einmal war ihre Wut wie weggeblasen. Vielleicht lag es an dem Tonfall des Psychiaters, der unverändert ruhig blieb, wie sehr sie ihn auch provozierte. Er hatte sich als Blitzableiter zur Verfügung gestellt, und jetzt, da ihr erster Ausbruch vorbei war, setzte ihr logisches Denkvermögen langsam wieder ein.
Beschatter – Überwachungskameras – Sack über den Kopf – Angst vor Spionen – Stoya – Scholle – Roth – Suker
Das Element, was diese Kette verband, hieß …
»Augenblick mal …« Alina stemmte sich langsam aus dem Sessel hoch. »Die Zeugin ist gar nicht verschwunden.«
»Wie bitte?«
»Tamara Schlier, die Kronzeugin im Fall Suker, ist nicht vom Erdboden verschluckt. Sie ist hier.«
Alina wertete die Pause, in der Roth vermutlich genickt hatte, als Zustimmung.
»Die Klinik ist ein Versteck. Sie haben Tamara hierhergebracht, damit sie vor Suker sicher ist.«
Deshalb ist das Terrain so gesichert. Deshalb werden Sie bei unangemeldeten Besuchern so nervös.
»Schwanenwerder 7 ist ein Hochsicherheitstrakt, den nur sehr wenige Menschen kennen«, bestätigte Roth ihre Vermutung. »Von außen kann man kaum über den zwei Meter hohen Zaun blicken, und sollte doch mal jemand einen Blick erhaschen, dann sieht er nur das Hauptgebäude, das wie eine schlossartige Villa wirkt. In der Tat war es das sogar einmal. Auf diesem Anwesen befand sich der Sitz der Familie Larenz.«
»Sagt mir nichts.«
»Und tut hier auch nichts zur Sache. Das Vorderhaus ist nur Tarnung. Das Herzstück der Anlage befindet sich uneinsehbar mehrere Meter unterhalb der Villa, direkt am Ufer des Wannsees. Vom Wasser aus betrachtet, sieht man nichts als Bootshäuser und eine verspiegelte Glasfront. Die sicheren Wohnungen, die für den Opfer- wie für den Zeugenschutz eingesetzt werden, wurden größtenteils unterirdisch angelegt, ebenso wie der Teil der Klinik, in dem wir uns gerade befinden.«
»Und wo Sie Tamara Schlier behandeln.«
»Unter anderem, ja.«
»Das verstehe ich nicht, dann haben Sie doch Ihre Zeugin. Wieso haben Sie Suker trotzdem laufenlassen?«
»Weil wir in diesem tragischen Fall nur noch wenig Hoffnung haben, dass Frau Schlier jemals wieder in der Lage sein wird, eine verwertbare Aussage zu machen,
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