Der Augenjäger / Psychothriller
gesamte Insel verfügte nur über wenige Hausnummern, aber da keines der Grundstücke weniger als fünftausend Quadratmeter umschloss, mussten sie jeweils ein halbes Fußballfeld ablaufen, um zur nächsten Gartenpforte zu gelangen. So dauerte es weitere zehn Minuten, bis das akustische GPS -Signal ihres iPhones anschlug. Sie waren da. Schwanenwerder 7, was immer sich hinter dieser Adresse verbergen mochte.
Natürlich hatte Alina alles versucht, um diesen strapaziösen Ausflug zu umgehen, aber weder die telefonische Auskunft noch das Internet hatten ihr helfen können. Schwanenwerder 7 war in keinem öffentlichen Verzeichnis gelistet, wie die meisten Anwesen hier. Die Reichen und Schönen der Insel investierten ihr Geld in alles Mögliche, ganz sicher aber nicht in Klingelschilder, auf denen ihr Name stand. Einen ganzen Tag lang hatte sie mit sich gehadert, dann hatte sie sich heute früh auf den Weg gemacht.
Es dauerte, bis Alina den schmalen Metallpfosten fand, der nur wenige Zentimeter vor dem Grundstückszaun im Boden steckte und in den die Gegensprechanlage integriert war.
Sie drückte die Klingel und ging noch einmal im Geiste durch, was sie sagen wollte, wenn man sie fragte, was sie hier wolle.
»Ich weiß, es klingt etwas merkwürdig, aber ich habe Ihre Adresse von Kriminalhauptkommissar Mike Scholokowsky. So wie ich ihn verstanden habe, haben Sie einige Informationen für mich.«
»Ja bitte?«
Alina hatte damit gerechnet, dass es mehrere Minuten dauern würde, bis jemand die sicher endlosen Flure des Anwesens durchschritten haben würde, und war etwas überrascht, so schnell eine Stimme zu hören. Der Mann klang überraschend freundlich.
»Alina Gregoriev, ich würde gerne …«
Der Summer schlug an, und das Tor schnappte einen Spalt auf. Sie musste sich mit beiden Händen dagegenstemmen, um die schwere Eingangspforte aufzudrücken.
Okay, Scholle, offensichtlich war das doch keine Verarsche, und ich werde erwartet,
dachte Alina noch, als TomTom sich ihr nach wenigen Schritten plötzlich knurrend in den Weg stellte, doch da war es schon zu spät, um sie zu warnen.
Alina wurde zu Boden gerissen.
14. Kapitel
E s waren zwei, beide sprachen kein Wort. Ihre Bewegungen, mit denen sie Alina gleichzeitig zu Fall brachten, einen Schlag in den Solarplexus versetzten, um ihr in den lautlos aufgerissenen Mund einen Knebel zu stecken und einen Stoffsack überzuziehen, waren fließend und wirkten wie eine einstudierte Choreographie. Sie fühlte ein unwirkliches Gefühl der Schwerelosigkeit, als sie an Armen und Beinen nach oben gerissen wurde. Eigentlich wäre das der Moment gewesen, um in Panik auszubrechen. Wenn nicht schon beim Geräusch des Paketklebebands, das sich schmatzend um ihre Handgelenke schnürte, dann spätestens, als sie das Schaben einer sich öffnenden Schiebetür hörte und auf die Rückbank eines Lieferwagens geworfen wurde. Der gesamte Vorgang hatte weniger als vier Sekunden gedauert, und vermutlich war das der Grund, weshalb sie ihre Lage erst mit einiger Zeitverzögerung realisierte.
Meine Angst kommt nicht hinterher,
dachte sie und stellte fest, dass ihre einzige Sorge TomTom galt, der erst wild gebellt und dann erstickt aufgejault hatte und nun nicht mehr bei ihr war.
Wir rasen meiner Angst davon.
Der Transporter startete durch und jagte dem Neigungswinkel nach einen Abhang hinunter. Alina hatte keine Vorstellung von den Proportionen des Grundstücks, anscheinend aber war es groß genug, um eine Rennstrecke darauf zu unterhalten. Sie rechnete damit, jede Sekunde auf dem Wasser des Wannsees aufzuschlagen, als sich die Fahrtgeräusche veränderten und gleichzeitig lauter und dumpfer wurden, was darauf hindeutete, dass sie in einen Tunnel eingebogen waren.
Die Fahrt endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. Hätte einer ihrer beiden Entführer nicht auf ihren Oberschenkeln gesessen, wäre sie nach vorne geschleudert worden, als der Fahrer auf die Bremse trat.
Die Schiebetür flog auf, und Teil zwei der unheimlichen Choreographie begann. Diesmal wurde sie von einem der Männer geschultert. Der andere riss ihr den linken Handschuh herunter und presste ihre Handfläche auf eine kühle, glasartige Oberfläche. Sie begann zu schwitzen, aber immer noch nicht aus Angst, sondern weil die Temperaturen auf einmal um vierzig Grad gestiegen waren. Vor ihrem geistigen Auge baute sich das Bild einer beheizten Garage auf, dann hörte sie den Widerhall, den die Ledersohlen ihrer Entführer erzeugten,
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