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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Alle zwei Stunden!« Scholle hielt mir die entsprechende Anzahl Finger direkt vors Gesicht.
    »Der Mistkerl hat die Muskeln ihrer Augenpartie so zerschnitten, dass man ihr keine künstlichen Lider implantieren kann. Sie wird nie wieder eine Nacht durchschlafen können, und vermutlich sind die zwei Stunden nicht mal ausreichend, um sie auf Dauer vor dem Erblinden zu bewahren. Verstehst du jetzt, weshalb ich mit dir reden muss?«
    Er suchte meinen Blick.
    »Vergiss einfach alles, was zwischen uns vorgefallen ist, und sieh dir das da noch mal an.«
    Scholle drehte mich wieder zum Bildschirm.
    »Alina ist jetzt vermutlich in den Fängen der Bestie, die das Leid dieser Frau zu verantworten hat, begreifst du das? Wenn es irgendetwas gibt, was du weißt, dann sag es mir. Und wenn du nicht sprechen kannst, dann schreib es auf oder mal es meinetwegen mit den Füßen, nur tu was, damit wir das Schwein endlich zur Strecke bringen können. Geht das in deinen durchlöcherten Schädel?«
    Ich nickte langsam, ohne Tamaras Silhouette aus den Augen zu lassen. Ihr Körper schien völlig reglos, als wäre sie eine Schaufensterpuppe, nur ihr rechter Arm schwebte in Kopfhöhe und schien etwas von der Wand wischen zu wollen.
    »Waschmaschtschieda?«, fragte ich.
    »Tja, das ist schwer zu erklären. Am besten, du siehst es dir selbst an.«
    Scholle löschte wieder das Licht im Flur und rollte mich direkt vor den Bildschirm. Es dauerte eine Weile, bis ich den Gegenstand erkannte, den Tamara in der Hand hielt.
    »Pinschel?«, fragte ich, weiterhin unfähig, mehr als ein Wort am Stück zu artikulieren.
    »Ein Filzstift«, korrigierte Scholle. »Sie kritzelt ihre Wände voll. Statt ihre Aussage zu machen, mit der wir Suker einbuchten könnten, beschäftigt sie sich den ganzen Tag mit Höhlenmalerei.«
    »Wasch?«
    »Du willst wissen, was sie zeichnet?«
    Scholle schob mich wieder ein Stück näher an den Bildschirm.
    »Wir haben keine Ahnung, Kumpel.«
    Wieder drückte er die Fernbedienung, und die typische Oberfläche eines Computerdesktops erschien. Offensichtlich war es den Ärzten möglich, sich sämtliche Krankenakten über den Monitor anzeigen zu lassen. Scholle öffnete einen Ordner, der mit »Tamara_Schlier_Pics« beschriftet war, und vergrößerte den Bildschirmausschnitt.
    Als ich erkannte, was er mir zeigen wollte, war mein erster Impuls, mich abzuwenden. Stattdessen tat ich das Gegenteil. Ich fühlte mich wie der Beobachter eines Unfalls, der sich wünscht, an einem anderen Ort zu sein, und dennoch so sehr von dem Grauen fasziniert ist, dass er die Augen nicht losreißen kann.
    »Sieht aus wie eine Kinderzeichnung«, erklärte Scholle unnötigerweise. Ich sah auf den ersten Blick, was die ungelenken Striche auf dem weißen Putz darstellen sollten. Das zweistöckige Haus mit den sechs Fenstern war so typisch falsch proportioniert, wie man es von Bildern kennt, die bei Familien mit kleinen Kindern an den Kühlschränken hängen. Eine naive Zeichnung mit einer viel zu großen strahlenden Sonne über dem Schrägdach und einer Haustür, die der dreiköpfigen Familie auf dem angedeuteten Rasen nicht mal bis zur Brust reichte.
    »Sie malt fast ununterbrochen an dem Bild. Ist sie mit einem Haus fertig, fängt sie mit einem neuen an, die Wände sind voll davon. Wir dachten erst, sie pinselt das Gebäude, in dem Suker sie gefoltert hat, aber …«
    »Kennesch«, unterbrach ich ihn und versuchte gleichzeitig, den Würgereiz zu unterdrücken.
    »Du kennst es?«
    Ich nickte, während sich Scholle misstrauisch zu mir beugte.
    »Wir haben alle uns zur Verfügung stehenden Bild- und Videodaten über Berlin abgeglichen und konnten keinen Treffer finden.«
    »Ischkenneschaber.«
    »Okay. Und wo steht es?« Scholle sah so aus, als wollte er mich schütteln. »Kannst du uns die Adresse sagen?«
    Ja, und weiß Gott, ich wünschte, es wäre nicht so.
    Das Bild, das Tamara in der Dunkelheit auf die Wand ihres Krankenzimmers kritzelte, hatte ich schon unzählige Male in meinem Leben gesehen.

27. Kapitel
    Alina Gregoriev
    A ls Alina erwachte, glaubte sie für einen Moment, bereits gestorben zu sein. Wie jeden Morgen schlug sie die Augen auf, um in das grenzenlose Nichts zu starren, das ihre Welt definierte, nur dass sie heute dabei ihren Körper nicht mehr spürte. Normalerweise blieb sie vor dem Aufstehen immer noch einige Minuten liegen, um das eigene Gewicht zu fühlen, mit dem sie sich in die weiche Boxspring-Matratze ihres Bettes drückte. Erst nach

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