Der Augenjäger / Psychothriller
unsere Ansichten trennte. Es war eine Sache, sich an einem überführten Mörder zu rächen, so wie an Frank, der mir seine Taten persönlich gestanden hatte. Eine ganz andere Sache war es, einen Menschen auf Verdacht zu quälen.
Mein Blick streifte den Zündschlüssel unter Scholles Lenkrad. Passend zu dem subtilen Humor des Polizisten baumelte an ihm ein Plastikmännchen in Sträflingskleidung, mit einem Galgenstrick um den Hals. Wir fuhren über ein Schlagloch, und der Gehenkte schaukelte wie ein Pendel an seinem Strick.
»Wie du weißt, hab ich selbst meinen Sohn verloren«, sagte Scholle, immer noch in seinem von Pathos getragenen »Ich hatte doch keine andere Wahl«-Ton. Ich nickte wissend, damit er mir nicht noch einmal die Geschichte von seiner russischen Ex-Frau erzählte. Er hatte sie als Prostituierte kennengelernt und nicht nur aus dem illegalen Bordell befreit, sondern auch noch geheiratet. Zum Dank hatte sie später seinen Sohn nach Jaroslawl entführt. Weil er damals sein Bauchgefühl ignoriert und sie allein in ihr Heimatdorf hatte reisen lassen, zögerte Scholle heute keine Sekunde, auf seine Instinkte zu hören.
»Damals ging es um meinen Sohn, Zorbach. Heute um deinen. Ich geb’s offen zu: Alina und Suker sind mir scheißegal. Aber weil ich es verbockt habe, weil ich Frank schon auf dem Servierteller hatte und ihn laufenließ, muss ich es wiedergutmachen, verstehst du? Ich will dir helfen, den Mörder deines Sohnes zur Strecke zu bringen.«
Er sah mich an und suchte in meinem Gesicht nach einer Regung des Verstehens.
»Ich war nicht untätig, während du am Tropf hingst«, fuhr Scholle fort. »Zwar hat Stoya jetzt dem Fall Zarin Suker oberste Priorität eingeräumt, weil er glaubt, hier schneller mit einem Erfolg auftrumpfen zu können. Du kennst doch den Sesselpupser. Er ist ein guter Bulle, aber er denkt nur an seine Karriere. Und im Falle Sukers hatten wir den Täter ja schon in U-Haft, während es von Frank weiterhin keine Spur gibt. Eine Zeugenaussage von Tamara, und unser Versagen beim Augensammler wäre Schnee von gestern, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich schloss die Augen in der Hoffnung, damit die Übelkeit, die mit der letzten Kurve hochgekommen war, beeinflussen zu können.
»Aber ich hab Überstunden geschoben und nicht lockergelassen, was den Augensammler betrifft. Und willst du wissen, was ich herausgefunden habe?«
Ich blinzelte kurz, was Scholle als Zustimmung fehlinterpretierte.
»Was immer Alina dir gesteckt hat, ich vermute, sie hat recht. Es gibt eine Verbindung.«
Ich zwang mich, die Augen wieder zu öffnen.
»Ich spiel’s dir vor. Hör gut zu.«
Scholle fingerte eine Kompaktkassette aus der Innenseite seiner Jacke hervor und legte sie ein. Der Klang war von schlechter, verzerrter Qualität; es rauschte und knisterte wie bei einer mehrfach überspielten Aufnahme, was das Grauen, das mich beim Hören der brüchigen Stimme überfiel, noch verstärkte.
30. Kapitel
S
chuld
«, sagte sie, und es sollte das Wort sein, das sie während der folgenden Minuten am häufigsten benutzte.
Während die völlig verängstigte Frau ansonsten sehr leise sprach, mit einer sanften, leicht fiebrig wirkenden Stimme, presste sie das Wort
»Schuld«
manchmal wütend, oft verzweifelt, aber immer laut und deutlich hervor.
»Er will den Menschen die Augen öffnen. Das hat er mir mehrfach gesagt und dabei gelacht.«
»Deswegen hat er Ihnen das angetan, Tamara?«,
fragte ein Mann, den ich als Stoya identifizierte, obwohl er sich während dieser Vernehmung viel behutsamer als sonst artikulierte.
»Deshalb hat er Ihnen die Lider entfernt?«
»Ja. Ich sollte meine Augen nie wieder vor meiner Schuld verschließen können. Vor dem Leid, das ich den Menschen angetan habe.«
»Hat Suker gesagt, was er damit meint?«
»Was ich verschuldet haben soll?«
»Ja.«
Das Rauschen auf dem Band wurde lauter und erst nach einer langen Pause von Tamaras Worten wieder übertönt.
»Ja. Ja, ich weiß, woran ich schuld bin.«
»Was ist es?«
Pause. Für eine längere Zeit war nur noch das Geräusch des Blinkers zu hören, den Scholle gesetzt hatte.
»Woran sind Sie nach Sukers Meinung schuld, Tamara?«
»Nicht nur nach seiner Meinung.«
»Wie meinen Sie das?«
»Suker hat recht. Ich habe tatsächlich etwas Schlimmes getan. Ich habe vermeidbares Leid über andere Menschen gebracht.«
»Wodurch? Was haben Sie getan?«
Wieder eine Pause, in der das Rauschen nur von kehligen Schluchzern
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