Der Augenjäger / Psychothriller
Zweifel aufkommen: Suker war von der Liege gestiegen.
»Auch wenn Sie es womöglich bedauern, Alina. Aber ich habe nicht vor, mit Ihnen zu schlafen.«
»Nicht?«, fragte sie, flehender als beabsichtigt.
»Nein. Noch nicht, zumindest.« Er kicherte, und Alina rechnete fest damit, dass er gleich sagen würde:
»Zuerst schneide ich Ihnen die Augenlider ab.«
Doch das würde keinen Sinn ergeben. Nicht bei ihr. Nicht bei einer Blinden.
Nichts ergibt hier einen Sinn. Ich dürfte nicht in seinen Fängen sein. Wenn er sich an der Furcht in den Augen seiner Opfer weidet, dann kann er mit mir nichts anfangen.
»Was wollen Sie dann von mir?«
»Zuerst will ich Sie operieren, Alina. Sie erinnern sich doch daran, was ich Ihnen im Gefängnis eröffnet habe. Und ich stehe zu meinem Wort. Ich werde dafür sorgen, dass Sie wieder sehen können.«
Obwohl vergewaltigt zu werden in der Reihenfolge ihrer schlimmsten Alpträume mit großem Abstand den ersten Platz einnahm, erschien ihr in diesem Moment die Vorstellung unerträglich, Suker könne seine unvorstellbare Drohung tatsächlich wahrmachen, nur damit sie den Horror, in dem sie gefangen war, nicht nur
fühlen,
sondern auch
sehen
müsste.
»Das eben war nur ein kurzer Vorgeschmack, ein Ausblick auf das, was kommen mag. Entschuldigen Sie bitte die kleine Spielerei, aber ich konnte mich nicht beherrschen.«
Suker stand jetzt hinter ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn.
Dann spreizte er mit Daumen und Zeigefinger die Lider ihres rechten Auges.
»Nein, bitte …«
»Schhh … Ich sagte doch, Sie müssen sich entspannen.« Alina hörte ein metallisches Klappern. »Sonst kann ich die Klammern nicht richtig setzen.«
»Neeeiiiin!« Alina verkrampfte am gesamten Körper. »Nicht, ich will das nicht. Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Wichser.«
»Aber, aber, was sollen denn die Beleidigungen? Ich will Ihnen ein Geschenk machen, und Sie wehren sich wie eine widerspenstige Katze.« Suker klang jetzt genervt. »Außerdem müssen Sie einsehen, dass es notwendig ist. Ich kann Sie nicht weiter durchs Leben gehen lassen, ohne dass Sie Ihre Augen öffnen und sich Ihrer Schuld stellen.«
Schuld?
»Der Einzige, der sich hier was zuschulden kommen lässt, sind Sie, Sie Arsch. Und glauben Sie mir, wenn Sie auch nur einen Fehler machen, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance bekomme, mich zu befreien, ich schwöre bei Gott, dann bringe ich Sie um.«
Alina machte eine kurze Pause, um Luft in ihre Lungen zu pumpen, doch bevor sie weiter ihre Angst in den Operationssaal des Wahnsinnigen schreien konnte, irritierte sie ein Geräusch, nur wenige Schritte von ihr entfernt.
Was ist das?
Zuerst war es kaum wahrnehmbar, doch je länger Alina sich darauf konzentrierte, desto lauter wurde das Wimmern, bis es schließlich in ein gutturales Stöhnen überging, das eindeutig aus der Kehle einer leidenden Frau kam.
Himmel, ich bin nicht allein,
dachte sie, während der Arzt die erste Metallklammer setzte, und im ersten Moment spendete ihr diese Erkenntnis sogar ein wenig Trost, bis Suker tadelnd mit der Zunge schnalzte.
»Nun sehen Sie mal, was Sie angerichtet haben, Alina. Durch Ihr Geschrei haben Sie die Organspenderin geweckt, die ich für Ihre Operation doch so dringend benötige.«
32. Kapitel
Alexander Zorbach
M it jedem Meter, den ich auf das Haus zuhumpelte, fühlte ich meine Seelenverwandtschaft mit dem Gebäude wachsen.
So wie ich selbst nur als Schatten unter den Lebenden weilte, wirkte das brachliegende Einfamilienhaus wie eine Erinnerung an bessere Zeiten. Die Gemäuer, die einst meine Familie – mein Leben – beherbergt hatten, hatten schon lange aufgehört zu atmen. Es war eine sternklare Nacht, der Mond tauchte mein Haus samt Garten in ein kaltes Scheinwerferlicht. Wo früher Nicci und Julian auf mich gewartet hatten, wohnte heute allein der Verfall. Er war noch nicht sehr weit fortgeschritten, es gab keine eingeworfenen Fensterscheiben oder Graffiti an den Wänden, aber die leere Sektflasche auf dem verschneiten Rasen und die ausgebrannten Pappschachteln daneben sprachen Bände. Silvester war zwei Monate her, und niemand hatte den Müll der Feier, den die Nachbarskinder auf unserem Grundstück hinterlassen hatten, weggeräumt.
Auf Scholle gestützt, näherte ich mich der Terrasse unseres Hauses –
meines Hauses. Es gibt niemanden mehr, mit dem ich es teilen kann –,
und Tränen traten mir in die Augen. Ich schob es auf meinen Kopfschmerz und auf die schneidende
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