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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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irgendeinem Grund ist es für die Menschen leichter, die Existenz eines Kinderschänders in ihrer Mitte zu akzeptieren, wenn man ein traumatisierendes Ereignis in seiner Jugend findet, als sich mit der Vorstellung abfinden zu müssen, dass manche widerwärtigen Subjekte schlicht von Natur aus böse sind. Man will es nicht wahrhaben, dass einer Kreatur die Lust am Foltern und Morden angeboren ist wie ihre Augenfarbe oder die Eigenschaft, Rechtshänder zu sein.
    Menschen suchen immer nach dem Wechselspiel zwischen Ursache und Wirkung, selbst bei Schicksalsschlägen und Krankheiten. Thrombose? –
Kein Wunder, bei dem wenigen Sport.
Vergewaltigt? –
Musste ja mal so kommen, so wie die sich anzog.
Verschleppt und an den Operationstisch eines psychopathischen Augenarztes gefesselt? –
Na klar, er liebt deine Augen!
    »Weißt du, was er damit gemeint haben kann?«, fragte Alina.
    Sie hörte das Rasseln einer Kette auf Metall, vermutlich, weil ihre Schicksalsgenossin ratlos die gefesselten Arme gehoben hatte.
    »Tut mir leid, Nicola. Du musst mir schon mit Worten antworten, wenn ich dich verstehen soll. Ich bin blind.«
    »Oh, tut mir leid«, sagte Nicola mit einem Bedauern in der Stimme, als sei ihre Sehbehinderung viel schlimmer als die Gefangenschaft, in der sie sich gerade befanden. »Jetzt verstehe ich.«
    »Verstehst du
was?
«
    »Was Suker gesagt hat, als ich aufwachte.«
    »Nun sehen Sie mal, was Sie angerichtet haben, Alina. Durch Ihr Geschrei haben Sie die Organspenderin geweckt, die ich für Ihre Operation doch so dringend benötige.«
    Kein Wunder, dass Nicola wieder anfing zu weinen.
    Alina überlegte sich, ob es irgendetwas gab, womit sie die junge Frau beruhigen konnte, aber sie fand ja noch nicht einmal einen Ansatz, um ihre eigene Panik zu unterdrücken. Wenn Suker seine Drohungen wahrmachte, dann würde er Nicolas Hornhaut entfernen, um sie bei ihr zu transplantieren. Es gab keine Worte, die dieses Horrorszenario erträglicher machen könnten. Alina wusste das. Und Nicola, deren Weinkrampf gerade in einen Hustenanfall übergegangen war, wusste es auch.
    »Nicola? Hör mir zu. Welches Fach in der Schule hast du früher am meisten gehasst?« Alina fragte nicht aus Interesse, sondern um Nicola mit einer unerwarteten Frage abzulenken.
    »Was?«, fragte Nicola gepresst. Sie hustete mehrmals hintereinander, aber sie war tatsächlich aus dem Konzept gebracht.
    »In der Schule. Welches Fach …«
    »Ja, ja, ich hab schon verstanden, aber was soll das? Ich hasse alle Fächer.«
    »Ich ›hasse‹«,
dachte Alina.
Sie spricht in der Gegenwart.
    »Wie alt bist du denn?«
    »Sechzehn.«
    Nicola. Sechzehn.
    Auf einmal hörte Alina jemanden weinen, doch diesmal geschah das nur in ihrer Erinnerung, und jetzt wusste sie, mit wem sie sich unterhielt.
    »Nicola Strom?«
    »Wo…, woher kennst du …?«
    Das Mädchen schnappte nach Luft, und Alina stieg ein feiner, unangenehmer Duft in die Nase. Der unverkennbare Geruch der Angst. Sie ging davon aus, dass er schon die gesamte Zeit über in dem Raum gehangen hatte und von ihrem eigenen Angstschweiß überdeckt gewesen war. Jetzt aber strömte er Nicola aus allen Poren, seitdem ihr Nachname gefallen war.
    »Ich habe mich mit deiner Mutter getroffen«, erklärte Alina. »Sie sucht dich. Sie ist zu mir gekommen.«
    »Du lügst.«
    »Wieso sollte ich?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht, weil du mit dem Schwein unter einer Decke steckst?«
    »Tu ich nicht. Verdammt, ich hab genauso viel Angst wie du.«
    »Dann erzähl keine Scheiße. Meine Mutter würde nie nach mir suchen. Kann die gar nicht. Sie ist ’ne verdammte Schnapsleiche, schon morgens zugedröhnt. Da würde ja eher noch mein Vater etwas unternehmen, aber der ist sicher ganz froh, dass ich weg bin. So kann ich wenigstens keinem erzählen, wie er mich befingert hat, kaum dass ich bei ihm eingezogen war.« Nicola hustete verächtlich. »So viel zu deiner Familie Sonnenschein, die sich um die kleine Nicola sorgt.«
    Alina seufzte. »Hör zu, deinen Vater kenn ich nicht.«
    »Ist auch besser so.«
    »Und deine Mutter ist vielleicht etwas angeknackst, setzt aber gerade Himmel und Hölle in Bewegung, um dich wiederzufinden; im Gegensatz übrigens zur Polizei, die glaubt, du wärst nur ausgerissen. Aber lass uns keine Zeit verlieren. Suker kann jeden Moment zurückkommen, und ich würde mich gerne darauf vorbereiten.«
    »Vorbereiten? Worauf denn?«
    »Auf unsere Flucht. Dazu muss ich wissen, wo ich bin.«
    »Das weiß ich

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