Der Augenjäger / Psychothriller
anvertrauen.«
Ich bewegte mich auf einem schmalen Grat, ohne zu wissen, ob meine Logik innerhalb ihrer wirren, vielleicht sogar wahnhaften Erlebniswelt überhaupt einen Sinn ergab; aber Tamara nickte mir tatsächlich zu, als könne sie, im Gegensatz zu mir, verstehen, was ich meinte.
»Ich denke, da haben Sie recht.«
Sie sah hoch zu der Nachtsichtkamera in der Zimmerdecke, mit der sie beobachtet werden konnte, ohne dass man das Licht anmachen musste. Roth hatte mir versichert, dass sie im Augenblick nicht aktiv war.
»Ich denke, ich kann damit aufhören, diese Bilder zu malen«, sagte sie leise.
Ich deutete an die Wand. »Was haben Sie sich denn davon versprochen?«
»Mein Leben. Meine Freiheit.« Sie zog die Nase hoch. »Aber das ist jetzt vorbei.« Sie drehte sich wieder zu mir. »Das ist alles vorbei.«
Der Gummirand ihrer Taucherbrille bildete einen Staudamm über ihrem Jochbein, der sich immer mehr mit Tränen füllte.
»Ich fürchte, ich verstehe es noch nicht, Tamara. Wie sollten diese Wandmalereien hier Ihnen die Freiheit schenken können?«
Sie schluchzte. »Das war unsere Abmachung. Ich sollte die Wände meines Zimmers vollkrakeln, damit alle denken, ich sei geisteskrank geworden …«
»… und könnten deshalb nicht mehr gegen Suker aussagen?«
»Ja.«
Sie presste trotzig die Lippen aufeinander. »Mein Befehl lautete, so lange zu malen, bis Sie eines Tages kommen würden.«
»Ich?«
»Ja, deshalb habe ich mich doch so gefreut, dass Sie endlich da sind. Sie würden kommen und mir die Nachricht überbringen, und damit wäre ich erlöst. Dann könnte ich aufhören zu zeichnen und würde für immer in Ruhe gelassen. Das war unsere Vereinbarung, verstehen Sie?«
Ja, das tat ich sogar. Innerhalb des Strudels aus Wahnsinn, an dessen Rändern wir uns beide vergeblich festzuhalten suchten, ergaben Tamaras Sätze tatsächlich einen morbiden Sinn.
»Wie sollte die Nachricht denn lauten?«, fragte ich.
»Drei Wörter. Sie sollten mir eine Tagebuchseite übergeben, auf der drei Wörter stehen.«
»Welche?«
Sie beugte sich zu mir und zog die Brauen hoch, was ihre blutgeräderten Augen noch mehr hervorquellen ließ.
»Safran weckt Hirn«, sagte sie.
Mir wurde kalt.
»Safran weckt Hirn« – was hat das zu bedeuten? Woher kennt sie diese sinnlose Wortkombination aus dem Tagebuch meines Sohnes? Und weshalb hätte ich ihr diese unverständliche Nachricht überbringen sollen?
»Ich verstehe das nicht«, stammelte ich wahrheitsgemäß.
Suker hatte im Gefängnis gesessen, als sie anfing, ihre Wände zu bemalen.
Wie hatte er Zugang zu dem Bild meines Sohnes haben können? Weshalb hat er es sich ausgesucht? Und wie war es ihm gelungen, es Tamara zu geben?
»Wie konnte Suker Sie aus der Untersuchungshaft heraus so unter Druck setzen, dass Sie eine Geisteskrankheit vortäuschten und Ihre Aussage verweigerten?«, wählte ich aus all meinen Gedanken die drängendste Frage. Als Antwort schenkte mir Tamara ein verzweifeltes Lachen.
»Sie haben wirklich keine Ahnung, was?« Es klang wie eine Frage, war aber eine Feststellung. »Hier geht es doch nicht um Suker. Der Mann hat längst bekommen, was er von mir wollte. Er hat mich zerstört und ist fertig mit mir. Vor ihm habe ich meine Ruhe.«
Ich sah sie an und fühlte mich wie ein Autofahrer im Nebel, der mit eingeschalteten Scheinwerfern durch eine undurchsichtige Schleierwelt fährt. Noch konnte ich in dem Dickicht des Irrsinns keine Hindernisse erkennen, ahnte aber, dass der tödliche Aufprall unmittelbar bevorstand, wenn es mir nicht gelang, die nächste Ausfahrt zu nehmen.
»Aber wenn nicht Suker …«, fragte ich zögernd, »wer ist es dann, der Ihnen so große Angst einjagt?«
Tamara atmete aus und sackte dabei noch mehr in sich zusammen. Die Antwort, die sie mir gab, ließ den Schrecken, den wir alle durchleiden mussten, in noch hoffnungsloserem Licht erscheinen.
46. Kapitel
Alina Gregoriev
N icola?«
Vielleicht war es der Nervenzusammenbruch, der das Mädchen geweckt hatte, aber Alina war sich da nicht so sicher. Vielleicht hatte auch einfach nur die Wirkung ihres Betäubungsmittels nachgelassen, und es war reiner Zufall, dass Nicola zu stöhnen begann, gerade als Alina mit dem Schreien aufhörte.
»Hmmm …«
Sie schämte sich im ersten Moment bei dem Gedanken, die Laute, die Nicola auf dem Operationstisch neben ihr äußerte, klängen irgendwie
behindert.
Auf ihrer Schule in den USA hatte es neben ihr noch einen weiteren
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