Der Augenjäger / Psychothriller
vorgenommen, Nicola ausreden zu lassen, ganz gleich, wie schlimm sie von ihr beschimpft wurde.
Ihr letzter Satz jedoch ließ ihr keine Ruhe. Sie musste das Mädchen unterbrechen.
»Schlimmer als
sie?
«, fragte Alina verwirrt. »Wer, außer Suker, hält uns hier noch gefangen?«
47. Kapitel
Alexander Zorbach
E ine Frau? Suker hat eine Assistentin?«, fragte ich.
»Ja, und sie nennt sich Iris, was natürlich nicht ihr richtiger Name ist.«
Die Art, wie Tamara die Hände im Schoß faltete, ließ sie wie ein Schulmädchen im Rektorenzimmer wirken. »Das ist ein doppeldeutiger Scherz, mit dem sie ihre Opfer zusätzlich verhöhnen will. Iris wie Auge, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ich nickte. »Und diese Iris hilft Suker bei seinen Taten?«
»Helfen?« Tamara schüttelte den Kopf. »Oh nein, nein.
Helfen
ist das falsche Wort.«
Tamara tippte mit beiden Zeigefingern auf das Plexiglas ihrer Taucherbrille. »Denken Sie, das hier ist grausam?«
Ich sah ihr direkt in die Augen und nickte.
»Dann haben Sie keine Ahnung von Iris.«
Ich stand auf, einfach nur, weil ich das Gefühl hatte, irgendetwas tun zu müssen. Jeder Satz von Tamara elektrisierte mich mehr, und in diesem Moment war meine eigene Verletzung vergessen.
»Was hat Iris Ihnen angetan?«, fragte ich.
Ein Schauder durchlief Tamaras Körper. »Ich werde es Ihnen erzählen, jetzt, da es ohnehin nichts mehr ändert. Aber zuvor müsste ich etwas trinken, bitte. Könnten Sie so nett sein, mir ein Glas Wasser zu bringen?«
Ich drehte mich zu der zweiten Tür, rechts neben dem Eingang. »Lassen Sie es etwas laufen, bitte, ich mag es kalt«, rief sie mir hinterher, als ich das Badezimmer betrat. Da auch hier nur die Notbeleuchtung brannte, fiel es mir zunächst schwer, mich zu orientieren. Wie in Krankenhäusern üblich, wirkte es steril und anonym, trotz Tamaras persönlicher Habseligkeiten. Rechts eine Duschzelle, daneben das Toilettenbecken, über beiden baumelte eine rote Schnur, an der man im Notfall ziehen konnte. Während ich an das Waschbecken trat, sprach Tamara draußen weiter.
»Es war Iris, die mir die Augen zerschnitten hat.«
Ich nickte unbewusst.
Deswegen die groben Narben, die so gar nicht zu Sukers Fingerfertigkeit passten.
Langsam fügte es sich. Ich fühlte mich wie beim Zusammenfügen eines Modellbausatzes, bei dem man mit einigen Kleinteilen beginnt, ohne zu wissen, welchen Platz sie später im Gesamtobjekt einnehmen werden.
»Sie bereitete mich als Opfer für ihren Meister vor, indem sie mir ohne Betäubung die Lider entfernte. Dabei trug sie eine Maske, damit ich sie nicht sehen konnte.«
Das Waschbecken war groß und geschwungen, verfügte aber über keinerlei seitliche Ablagemöglichkeit. Tamaras Zahnbürste lag direkt auf der Emaille neben einer halb ausgedrückten Tube Colgate, ein Zahnputzbecher war nicht vorhanden.
»Iris war es auch, die mich in dem Spiegelzimmer ankettete, in dem ich von Suker vergewaltigt wurde.«
Ich sah hoch in den Spiegel über dem Waschbecken und erschrak über meinen Anblick, der bei voller Beleuchtung bestimmt noch hässlicher ausgefallen wäre. Ich sah aus wie ein einst übergewichtiger alter Mann, der viel zu schnell an Gewicht verloren hat. Die Wangen waren eingefallen, das Gesicht wirkte schwach und ausgemergelt, als würde es auseinanderklappen, wenn mein Kopfverband es nicht länger zusammenhielt.
»Gibt es hier irgendwo Gläser?«, fragte ich.
»Gegenüber von der Dusche.«
Ich drehte mich um, öffnete die Tür eines kleinen Schränkchens und entdeckte auf den ersten Blick auch hier nur Hygieneartikel, doch dann sah ich im obersten Fach einen Plastikbecher. Als ich ihn herausangeln wollte, machte ich eine ungeschickte Bewegung, und eine Kosmetiktasche fiel zu Boden. Ich hob sie auf, und weil sie so leicht war, vermutete ich zunächst, sie wäre leer, dann aber entdeckte ich in der halbgeöffneten Tasche die Briefe.
Heute wünschte ich, ich hätte sie nie gesehen.
»Ist etwas passiert?«, rief Tamara von draußen, während ich auf die Kuverts starrte. Es waren insgesamt vier Stück, allesamt cremefarben, in dick gefütterten Umschlägen, wie sie teure Anwaltssozietäten benutzen.
Für meinen Bruder – Für meine Schwester – Für Papa …
Tamara hatte sie ausschließlich an Familienmitglieder adressiert. Und jeder von ihnen war mit dem gut sichtbaren Vermerk
Mein Letzter Wille
versehen.
»Alles okay«, erwiderte ich und ging zum Waschbecken, wo ich den Hahn aufdrehte.
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