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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Schwerbehinderten in der Klasse gegeben: Luther, dessen Taubheit zu spät diagnostiziert worden war und der deshalb nie richtig sprechen gelernt hatte. Wann immer Luther sich artikulierte, hatte er es mit ähnlich gutturalen Lauten getan, wie sie jetzt aus Nicolas Mund kamen.
    »Hey, Kleine, kannst du mich hören?«, fragte Alina.
    Keine Reaktion, jedenfalls nicht sofort. Es dauerte eine Weile, bis Alina das erste Wort aus dem Gebrabbel heraushören konnte.
    »Wo …?« Nicola machte eine lange Atempause und setzte neu an. »Was ist passiert?«
    Ihre Stimme klang fiebrig und unsagbar müde. Sie nuschelte mit zischenden S-Lauten, als wäre sie betrunken.
    »Ich weiß es nicht«, log Alina.
    Sicher war es ein Zeichen von Schwäche, ihr nicht die Wahrheit zu sagen, aber Himmel noch mal,
sie war schwach,
und außerdem hoffte sie darauf, dass sie sich geirrt hatte; dass es doch kein menschliches Auge gewesen war, das ihr eben gemeinsam mit dem Skalpell aus den Händen geglitten war.
    Nicolas Fragen machten diese Hoffnung allerdings zunichte: »Weshalb tut das so weh? Warum tut mir der Kopf so weh?«
    Weil es darauf keine barmherzige Antwort gab, beschränkte sich Alina auf die verbrauchteste aller Floskeln, wenn es darum geht, das Unaussprechliche in Worte zu kleiden: »Es tut mir so leid.«
    Nicola neben ihr schluchzte erbärmlich. »Scheiße, was hat er mit mir gemacht? Ich kann mein linkes Auge nicht mehr spüren.«
    Ihre Stimme zitterte, sie sprach etwas langsamer, und man konnte erahnen, wie sie sich beim Reden wieder daran erinnerte, was in den Minuten vor ihrer Operation vorgefallen war.
    Wie Suker die Zweifarbigkeit ihrer Iris gelobt hatte. Wie er das Skalpell in die Hand nahm. Wie er ihr erklärt hatte, wofür er ihre Hornhaut benötigte …
    Reflexartig berührte Alina noch einmal ihre eigenen Augen, um erneut festzustellen, dass bei ihr noch alles in Ordnung war. Kein Pflaster, keine Nähte. Nur der stumpfe Druck unter den Lidern war größer geworden, was sie auf ihre allgemeine Überanstrengung zurückführte. Wieder schämte sie sich, diesmal, weil sie so erleichtert war.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße …« Nicolas letzter Fluch ging in ein schrilles Gekreische über.
    »Schhhhh … Kleine, bitte beruhige dich.«
    Sonst kommt Suker zurück, und das wäre zu früh. Ich habe noch keinen Plan.
    »Beruhigen? Hast du eben ›beruhigen‹ gesagt, du verdammte Schlampe?«
    »Hör zu, ich verstehe …«
    »Du VERSTEHST , dass dieses Arschloch mir meine Augen zerschnitten hat?«
    Augen?
    Alina verlagerte ihr Gewicht auf die rechte Schulter und drehte sich zum Nachbartisch.
    »Kannst du denn gar nichts mehr sehen, Nicola?«
    Das Mädchen seufzte. »Fuck, nein. Hier ist es dunkel, er hat alle Lichter ausgemacht.«
    »Aber du spürst noch, wie du blinzelst.«
    »Was …? Ja, Kacke, aber nur noch mit dem rechten Auge.«
    Nicola presste ihren Atem in kurzen, intensiven Stößen durch die Nase, als wollte sie eine Lokomotive nachahmen.
    »Dreh den Kopf bitte mal in meine Richtung.«
    »Wozu soll das …?« Das Mädchen stöhnte und ließ den Satz unvollendet, während sie sich, dem Klappern ihrer Ketten nach, zu bewegen versuchte.
    »Kannst du das hier sehen?«
    »Nein, ich kann … doch, ich kann deine Hand erkennen. Du winkst mir zu«, sagte Nicola.
    »Das ist gut, sehr gut.«
    »Gut? Gar nichts ist gut. Ich liege gefesselt auf einem Operationstisch, und mir FEHLT EIN AUGE !« Die letzten Worte schrie sie wieder, hysterisch. Nicola hätte sicher noch länger wie am Spieß gebrüllt, wenn ein Hustenanfall ihr nicht die Luft abgeschnitten hätte.
    »Verdammt, wer bist du?«, röchelte sie eine Weile später. »Und wieso bist du nicht mehr angekettet?«
    Alina hatte oft von Menschen gehört, deren Haare nach einem Schicksalsschlag spontan ergrauten. Obwohl ihr Farben nichts bedeuteten, hatte sie das Gefühl, als wäre auch aus der Stimme des Mädchens jegliche Farbe gewichen. Sie klang auf einmal abgestumpft, leblos und um Jahre gealtert.
    »Sechs Monate lang hat er mir nichts getan«, sagte sie. »Und dann kommst du. Du, du, …« Nicola hörte sich an, als wollte sie am liebsten vor Alina auf den Boden spucken. »Du bist noch schlimmer als sie.«
    Möglicherweise waren die seelischen Schäden, die Suker dem Mädchen zugefügt hatte, schon jetzt irreparabel. Sie würden es aber ganz gewiss werden, wenn Nicola kein Ventil für ihren Schmerz fand und ihre Ängste in sich hineinschrie. Daher hatte Alina sich

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