Der Augenjäger / Psychothriller
dem eigenen Vater anvertraut?«
Ich seufzte zustimmend. Ein Teil von mir wollte die Unterhaltung an dieser Stelle abbrechen. Zu groß war die Gefahr, darüber nachdenken zu müssen, dass mein Sohn sich nie wieder jemandem anvertrauen konnte.
»Ich hab das alles erfahren, nachdem man sie gefunden hatte«, sagte er. »In den ersten Tagen ging es ihr erstaunlich gut. Ihre Mutter lebt ja nicht mehr, daher besuchte ich sie alleine im Krankenhaus, und wir redeten lange über den Horror, den sie erleben musste. Doch dann wurde sie nach Schwanenwerder verlegt, und von einem Tag auf den anderen …«
»Was hatte Tamara denn genau für Probleme?«, fragte ich sanft, als er gedankenverloren eine Pause machte.
»Nichts Schlimmes«, antwortete Leonard, dann korrigierte er sich, wohl weil er befürchtete, ich könnte meinen, er wolle die Sorgen seiner Tochter herunterspielen. »Jedenfalls nichts, was wir nicht in der Familie hätten regeln können. Sie wurde von ihrem Vorgesetzten belästigt.«
»Sexuell?«
»Nicht im Sinne einer Vergewaltigung, aber Tamara hatte Angst, ihren Job im Steuerbüro zu verlieren, wenn sie nicht auf seine Offerten einging. Ich meine …« Er hob seine buschigen Augenbrauen und betonte: »…
eindeutige
Offerten.«
Er stand auf und strich sich die Katzenhaare von seiner Cordhose. »Wollen wir besser draußen auf das Taxi warten?«, fragte er unvermittelt. »Sonst fährt es noch vorbei?«
»Hier drinnen ist es wärmer«, entgegnete ich, und er nickte abwesend, den Blick wieder aufs Fenster gerichtet.
»Okay, vermutlich haben Sie recht.« Er zögerte eine Weile, als könnte er sich nicht erinnern, wo wir stehengeblieben waren. Dann aber sagte er: »Eines Abends – Tamara hatte etwas getrunken, weil ihr Chef ihr wieder mit Kündigung gedroht hatte – ging sie ins Internet und rief wahllos eine Nummer an, die ihr in einem Fort empfohlen worden war. Nennt man das so?«
»Forum«, korrigierte ich, während ich langsam zu verstehen begann.
Sukers Assistentin suchte in anonymen Internetforen nach verzweifelten Frauen, psychisch labilen Opfern, und gab sich dort als hilfsbereiter Laie aus. Ich konnte mir nur zu gut die Postings vorstellen, die sie in den Selbsthilfegruppen hinterlassen hatte:
@Tammygirl, bin zufällig auf den Thread hier gestoßen. Tut mir echt leid mit deinem Chef. Was für ein Ar&%$§. Sorry für meine Wortwahl, aber solche Typen finde ich echt zum Kotzen. Hatte auch mal so einen, hat mich völlig fertiggemacht. Aber damals hat mir eine Hotline echt gut geholfen. Wenn du willst, schick mir eine PN und ich mail dir die Nummer. Tut manchmal echt gut, sich mit Unbeteiligten auszutauschen. Ich meine, deswegen sind wir doch alle hier, oder?;) Greez.
»Haben Sie die Telefonnummer noch, die Tamara damals gewählt hat?«, fragte ich.
»Nein, die wurde nicht gespeichert, weil sie sich in einem geheimen Raum getroffen haben oder so. Ich hab von so was ja keine Ahnung.«
»Ein Chatroom?«
»Ja, ich glaube, so nannte er sich.«
Also keine
PN, k
eine Privatnachricht.
In einem privaten Chat wurde der Gesprächsverlauf nicht gespeichert und war für immer verloren.
Ich trat nun ebenfalls ans Fenster. Leonard sah mich an, er blinzelte, als hätte er etwas im Auge.
»Haben Sie eine Ahnung, weshalb Suker ausgerechnet Frauen wie Tamara auswählte?«, fragte ich ohne große Hoffnung auf eine Antwort. Den Zeichnungen an den Wänden nach war der Alte Architekt oder Ingenieur, jedenfalls kein Kriminalist oder Psychologe. Umso mehr verblüffte er mich mit seiner Antwort. »Ich habe nicht nur eine Theorie, Herr Zorbach. Ich weiß es sogar aus erster Hand.«
57. Kapitel
Alina Gregoriev
N icola hatte sich geirrt. Es war nicht kalt. Es war viel schlimmer als das.
Alina dachte an russische Strafgefangene in einem sibirischen Gulag, dabei stand sie erst seit wenigen Sekunden mit bloßen Füßen im Schnee.
Zuvor hatte Alina sich an dem Geländer einer schmalen Treppe nach oben tasten müssen, die nur wenige Schritte von ihrer Folterkammer entfernt ihren Ursprung hatte. Die Stufen waren aus trockenem Holz, auf mindestens zweien von ihnen hatte sie sich einen Splitter eingetreten. Aber diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt ertragen musste, nachdem sie es gewagt hatte, die schwere Eisentür zu öffnen, vor der sie nach ihrem Aufstieg eine geraume Weile unschlüssig gestanden hatte.
Vielleicht ist sie verschlossen? Oder alarmgesichert? Oder Suker lauert dahinter?
Sie
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