Der Augensammler
drinnen.«
»Wovon sprichst du?«, fragte der Ältere. Er legte sich die Hand hinter die rechte Ohrmuschel. »Ich kann nichts hören.«
Tatsächlich.
Der Jüngere hielt den Atem an und konzentrierte sich auf die Geräusche, die es nicht mehr gab. Hinter den Türen der ehemaligen Küche war es still. Totenstill, dachte er, und ihm wurde übel, als sich seine Finger langsam wieder von der Türklinke lösten.
17. Kapitel
Alina Gregoriev
Sorry, aber ich bin ein bisschen durcheinander. Ich spiele gerade Verstecken mit unserem Sohn. Und weißt du, was völlig verrückt ist? Ich kann ihn nirgends mehr finden.«
Noch konnte Alina die aufgeregte Stimme der Frau nur hören, und auch das nur dumpf, wie aus weiter Ferne. Der Schmerz, der ihr den größten Teil ihres Bewusstseins nahm und die Erinnerungen zurückbrachte, breitete sich nun wie ein Lavastrom in ihr aus. Für eine kurze Weile schwankte sie noch zwischen der quälenden Realität, in der sie den ranzig-süßlichen Geruch verbrennender Haut roch - ihrer eigenen Haut -, und der Traumwelt, in die sie immer tiefer hinabsank und in der der fassungslose Vater seiner Frau eine letzte Warnung über das laut gestellte Telefon schickte: »O Gott. Wie konnte ich nur so blind sein? Es ist alles zu spät. Geh auf gar keinen Fall in den Keller.« Alina spürte noch, wie sie auf den Küchenfliesen aufschlug, und dann blieb von all dem Schmerz nur noch das Licht, das hinter ihren Augen tobte und in dem sie nun schon zum zweiten Mal die letzten Sekunden kurz vor der Entführung sah.
Aus einem Versteck hinter der Kellertür. Mit den Augen des Augensammlers!
»Hörst du mich? Geh nicht in den Keller.« Die letzten Worte des Vaters vor dem Tod seiner Frau verebbten, und dann stellte jemand den Film in ihrem Kopf auf schnellen Vorlauf.
Sie musste noch einmal erleben, wie sie in einen fremden Körper schlüpfte und der Mutter das Genick brach, sie in den Garten verschleppte, das Kind ... - nur ein Kind ... Wo, um Himmels willen, hat er das zweite versteckt? - aus der Laube in den Kofferraum trug. Sie fuhr wieder zum Hügel, starrte durch ein Fernglas auf den ankommenden Vater, der vor seiner ermordeten Frau auf dem Rasen zusammenbrach. Dann setzte der Regisseur ihres Alptraums einen harten Schnitt und übersprang die Sequenz, in der sie zu dem Bungalow fuhr und eine Cola trank. Stattdessen zeigte sich ihr eine völlig neue Erinnerung, und hier ergaben die Bilder keine homogene Szene mehr, sondern waren wie in einem hektisch geschnittenen Filmtrailer fast zufällig aneinandergereiht.
Ein Rollstuhl. Ein Kinderkopf, der reglos an der Kopfstütze lehnt. Große Männerfüße in Turnschuhen, die den Stuhl erst über Schotter schieben, dann eine Rampe hinauf . Nein, keine Rampe. Das ist eher ein . Steg. Ja, ein Bootssteg.
Sie kann das Wasser unter den Holzplanken erkennen, es schimmert schwarz wie Tinte. Um sie herum sind viele weiße Flecken, viele Schatten. Platzhalter für Gegenstände, die sie vor ihrer Erblindung nicht kannte und die sie daher in ihren Erinnerungsträumen auch nicht sehen kann. Der Film springt wieder nach vorne. Jetzt sieht sie ein Auge, es ist braun, es blinzelt und nähert sich einem Spiegel.
Gott, ich sehe seine Augen. Ich sehe die Augen des Mörders.
Aber ich sehe sie nicht in einem Spiegel, sondern .
... in dem Lupenglas eines Türspions.
Das Auge verschwindet, als sie spürt, wie ihre Wimpern eine kalte Metalltür berühren .
... weiß und dick, mit einem Hebel zum Öffnen, wie bei ihrem alten amerikanischen Kühlschrank, nur sehr viel größer.
Und dann sieht sie hinein. Hinein in das Versteck. Bemerkt das Kind auf dem nackten Boden, die Beine angezogen, den Körper in Embryonalhaltung gekrümmt. Sie sieht den Jungen zucken, beobachtet, wie er würgt und sich die Hände an den Hals presst, und merkt, dass sie plötzlich eine Uhr in der Hand hält.
Es muss so etwas wie eine Stoppuhr sein, denn sie zeigt nur noch wenige Sekunden an.
Als Nächstes spürt sie die Tränen.
Ich weine, denkt sie noch und korrigiert sich sofort. Nein, das bin ja nicht ich. Nicht ich weine, der Augensammler weint.
Dann hört sie sich schreien, und diesmal ist es keine fremde, sondern ihre eigene Stimme. Sie versucht mit Händen und Füßen gegen die Schutztür zu treten, aber die Wand, hinter der gerade die letzten Sekunden des Ultimatums ungenutzt verstreichen, ist verschwunden. Sie schlägt härter, schreit lauter, und als sie spürt, dass der Schmerz wieder
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