Der Ausloeser
weißen Baseballkappen, wie sie sich gegenseitig abklatschten, während seine Freundin vor ihnen kniete. Ein unerträglicher Gedanke. Auch ihm kamen die Tränen, er bezeichnete sie als Hure und machte Schluss. Erst einen Monat später erfuhr er, dass nicht Gina, sondern eine ihrer Freundinnen den drei Typen einen geblasen hatte. Gina war währenddessen auf einer Couch eingepennt. Ian bettelte sie an, sie solle ihm noch einmal verzeihen, sie sei das Beste, was ihm jemals widerfahren sei, ihm, einem Jungen aus Sonstwo, Tennessee, er würde nie mehr an ihr zweifeln. Doch sie ließ ihn nicht mal rein. Sie blickte ihn an, durch den Türspalt, schüttelte den Kopf und sagte ein einziges Wort: »Feigling.«
Das war schon näher dran, denn damals wie heute war er schuld an allem. Er hatte geheult, bis er nicht mehr konnte, bis er sich nur noch leer fühlte, bis er sich sicher war, dass ihm die Welt nichts mehr zu bieten hatte. Doch so miserabel er sich damals auch gefühlt hatte, es kam nicht annähernd an das heran, was er gerade durchlebte: zittrige Entzugserscheinungen gepaart mit der lähmenden Erkenntnis, dass er alle, die er liebte, nicht nur enttäuscht, sondern auch noch in akute Lebensgefahr gebracht hatte.
Noch ein Versuch. Wie wäre es mit damals, als er auf den vereisten Stufen bei der Billy Goat Tavern an der Michigan Avenue ausgerutscht, die halbe Treppe runtergefallen und mit einem grässlichen Knacken auf dem Asphalt gelandet war – ein stechender Schmerz, scharf wie Glasscherben, ein zweifach gebrochenes Bein, während die Autos auf der Straße weiterfuhren, als wäre nichts gewesen, das trübe, gelbe Licht der Unterführung, die Abgase und zuletzt die Gewissheit, ganz allein zu sein, allein in einer Stadt, die ihn um jeden Preis fertigmachen wollte?
Nein.
Oder neulich, als Katz ihm die Zigarre an die Eier gehalten hatte?
Nein.
Ian konnte sich nicht entscheiden, ob er kichern oder kotzen sollte. Seit fast vier Tagen hatte er sich keinen Krümel Koks mehr gegönnt. Jede Zelle seines Körpers schrie vor Verlangen, und die Sonne brannte auf ihn herab wie ein Suchscheinwerfer, weiß, heiß und unnachgiebig.
Scheiß auf die anderen , dachte er. Scheiß auf Jenn und Alex und Mitch, auf Katz und Johnny Love und Victor, auf seinen Vater, seine Kollegen. Scheiß auf die ganze Welt.
Das Taxi hielt vorm Eingang des Hochhauses. Ian reichte ein paar Scheine nach vorne, ohne weiter nachzuzählen. »Hey, alles klar mit Ihnen?«, rief ihm der Fahrer hinterher, doch er schlug die Tür zu, ging durch die Lobby zum Aufzug und hämmerte auf den Knopf ein, bis der Lift endlich da war.
Mit zitternden Händen tastete er nach dem Schlüssel, ließ ihn fallen, fluchte, trat gegen die Tür und zuckte zusammen, als seine Zehen schmerzten. Schließlich bückte er sich, griff sich den Schlüssel, schob ihn ins Schloss, drehte ihn herum und ging rein. Willkommen zu Hause.
Ein säuerlicher Geruch schlug ihm entgegen. Erst jetzt erinnerte er sich, dass er sich heute Morgen übergeben hatte. Er hatte vor der Schüssel gekniet und sich nach einer Line Koks gesehnt, aber nein, keine Chance. Danach hatte er auf der Couch gelegen und auf den stummen Fernseher gestarrt, bis Katz angerufen hatte – er müsse ihn unbedingt sehen, er solle sofort ins Continental kommen.
Katz hatte ihn verraten. Keine große Überraschung. Aber seine Freunde? Die Menschen, die er beschützen wollte? Das tat weh. Warum konnten sie nicht begreifen, dass er seine Gründe gehabt hatte, dass er es nur getan hatte, um …
Scheiß drauf.
Er marschierte zum Bücherregal, schnappte sich die Montecristo-Schachtel, klappte den Deckel auf und drehte sie über dem Glastisch um. Mit einem leisen Prasseln landete der Inhalt auf der Scheibe. Seine Hände bewegten sich wie von selbst, als er die Pergamenttüte auseinanderfaltete, den Verschluss öffnete und ein übertrieben großes Häufchen weißes Pulver auf die Platte schüttelte. Er bückte sich, tastete nach der Rasierklinge, die vorhin auf den Orientteppich gefallen war, sank auf die Knie und machte sich hastig an die Arbeit. Guter Stoff, die wenigen Klümpchen waren im Nu zerhackt. Er teilte ihn in vier dicke Bahnen auf, etwa so lang wie die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger. Ian nahm die Klinge in die linke Hand, mit der rechten griff er sich eine bereits zusammengerollte Zwanzig-Dollar-Note und beugte sich vor. Schon als er sich die Öffnung ans Nasenloch hielt, beruhigte sich sein Körper, ließ das
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