Der Ausloeser
und hielt die Handfläche unters Wasser. Ein konstanter Schmerz, den er jedoch nur wie aus weiter Ferne wahrnahm. Was für eine Woche. Ein blaues Auge, eine aufgeschlitzte Hand, eine Verbrennung zweiten Grades an den Eiern, ein kalter Entzug, und seine einzigen echten Freunde hatten ihn sitzen gelassen. Was für eine Woche!
Irgendwie musste er das alles wieder geradebiegen. Er hatte es verbockt, also musste er es wieder in Ordnung bringen.
Aber wie viel Zeit bleibt dir noch, Junge?
Okay, vielleicht konnte er es nicht ganz in Ordnung bringen. Aber wenigstens annähernd. Er konnte seinen Freunden helfen und wieder zu dem Mann werden, der er einmal gewesen war: ein Gewinner, ein Typ, der in jungen Jahren von Tennessee nach Chicago gezogen war, in die Windy City, um dort ein Vermögen zu verdienen.
Aber wie sollte er das anstellen? Er wusste zwar, wo es guten Stoff gab und wo die exklusivsten Pokerpartien liefen, aber davon abgesehen hielt sich sein Wissen über die Unterwelt in überschaubaren Grenzen. Auf seinem Handy waren keine Nummern von ehemaligen Cops mit Freunden in der Mordkommission gespeichert, und auch nicht von käuflichen Schlägertypen.
Damit kannst du also nicht dienen. Aber was hast du zu bieten? Was hast du drauf?
Natürlich könnte er immer noch zur Polizei gehen – doch wenn er Victor Ärger machte, würde dieser seine Drohungen mit Sicherheit in die Tat umsetzen; Ian bezweifelte ja schon, dass er tatsächlich Wort halten würde, wenn alles nach seiner Nase lief. Sein Vater, Alex’ Tochter, all die anderen … Er zitterte zwischen den kalten Fliesen des Badezimmers. Das Risiko war zu groß. Zumal er keine Ahnung hatte, mit wem er es zu tun hatte.
Moment. Da war doch was. Eine Szene aus Wall Street flimmerte über seine innere Leinwand, Michael Douglas als Gordon Gekko, der seinen Leitsatz predigte: Wissen ist Macht. Mann, wie oft hatte er den Film schon gesehen? Fünfzigmal? Hundertmal? Wie oft hatte er in seinem beschissenen Apartment auf der Couch gelegen, Ravioli aus der Dose gelöffelt und dabei den Text mitgesprochen, um seinen bescheuerten Südstaatenakzent loszuwerden?
Wissen ist Macht. Und im Moment wusste er einfach nicht genug.
Na toll. Und wie willst du etwas über diesen Victor herausfinden? Du kannst ja schlecht im Who’s Who der gut gekleideten Psychopathen nachschlagen.
Victor war also ein echtes Problem. Aber was könnte er …
Moment.
Ian richtete sich auf, ging in den Flur und schnappte sich das Telefon. Und klickte sich durch die Nummern, bis er gefunden hatte, was er suchte.
»Hey, Davis. Hier ist Ian Verdon. Hör mal, kann ich dich vielleicht auf ein Bier einladen? Ich hätte da ein paar Fragen an dich.«
26
NORMALERWEISE HÄTTE MITCH BIS SECHS UHR DIENST GEHABT , aber heute war ihm die Arbeit scheißegal. Er überlegte, wie viele Stunden er schon auf dem exakt gleichen Quadratmeter Gehsteig zugebracht hatte, bei Sonne, Regen oder Schnee, in seinem Affenkostüm, mit einem Lächeln für jeden Gast, wie oft er die Türen von Taxis und Limousinen geöffnet hatte, stets zu Diensten, meine Herren, wie oft er Gepäck geschleppt und den Weg zu ausgewählten Sehenswürdigkeiten erklärt hatte. Der Gedanke ermüdete ihn nicht nur, nein, ihm wurde direkt schlecht. Acht Stunden am Tag, zweihundertfünfzig Tage im Jahr, das Ganze mal … Wie lange machte er das jetzt schon? Zehn Jahre? Zehn Jahre lang hatte er auf das Muster der Kaugummiflecken auf dem Asphalt gestarrt, auf das Gebäude an der anderen Straßenseite. Zehn Jahre lang hatte er zugesehen, wie der Rest der Welt zu einer vernünftigen Arbeit gegangen war und dabei geschäftig ins Handy geredet hatte. Zehn Jahre lang hatte er Frauen in Seidenstrumpfhosen mit langem, weichem Haar hinterhergeschaut, die ihn nicht mal wahrgenommen hatten. Das war sein Leben. Ein einziger Reinfall.
Alex und Ian waren schon weg. Der eine hatte die Tür zugeknallt, der andere hatte sich mit hängenden Schultern verdrückt. Jetzt saßen Jenn und er allein im Tagungsraum. Vor seinen Augen flammte auf, was gleich passieren könnte: Wie er sie auf den polierten Konferenztisch hob, wie er sie mit einer Hand unter ihrem Kopf auf die Holzplatte bettete und leise Worte flüsterte, während seine Lippen ihren Körper hinabwanderten. Doch als er sie anblickte, wusste er sofort, dass es bei der Fantasie bleiben würde. Sie saß stocksteif da und starrte auf ihre langen, schlanken Finger, die gespreizt auf dem Tisch
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