Der Ausloeser
»Ich weiß«, sagte sie schließlich.
»Und bei dir muss ich mich auch entschuldigen.« Er nickte Ian zu. »Hättest du nicht nachgeforscht, hätten wir Victor das Zeug gegeben. Es war falsch von mir, dich einen Versager zu nennen. Tut mir leid, Kumpel.«
»Nein, nein, du hattest schon recht. Ich bin ein Versager. Aber ich arbeite dran.«
»Dann haben wir was gemeinsam«, erwiderte Jenn, und sie meinte es absolut ernst. Doch im Gegensatz zu vorhin war sie erstaunlich ruhig. Sie hatten eine Entscheidung treffen müssen, die eigentlich niemand treffen konnte, und sich trotzdem richtig entschieden. Egal, was sie ansonsten getan hatten – das konnte man ihnen nicht mehr nehmen. Und wenn das alles schon für sonst nichts gut war – zumindest würden sie die Sache bald überstanden haben.
Sie liefen über die Kreuzung, vorbei an zwei Händchen haltenden Frauen. Es war erst wenige Tage her, da waren sie und Mitch in die entgegengesetzte Richtung gerannt, vom Wagen zu ihrer Wohnung – und hätten es beinahe nicht geschafft, weil sie an dieser rätselhaften Flasche geschnüffelt hatten. Nicht auszudenken, wie echtes Sarin wirken musste.
Tja, was sollten sie der Polizei erzählen? Natürlich die Wahrheit, aber was genau? Was soll’s, dachte sie. Wahrscheinlich tat es nichts zur Sache, ob sie ihre Geschichte schnell oder langsam, elegant oder plump vortrugen. Die Tatsachen würden für sich sprechen. Hauptsache, sie packten endlich aus, machten endlich reinen …
»Nein.« Mitch starrte die Straße hinunter. »Nein.«
Jenn folgte seinem Blick. Im dämmrigen Licht wirkte das Violett des Chevrolet Eldorado satter als sonst, fast schon chic. Ein auf unbestimmte Weise cooles Auto – mit dem riesigen Kühlergrill, der Motorhaube, auf der man bequem zu dritt hätte schlafen können, und den fast schon gefährlich scharfen Linien der Karosserie, die sich bis zum offenen Kofferraum streckten.
Zum offenen Kofferraum.
In die Innenstadt sollte man sich an einem Samstagabend lieber nicht wagen, doch auf den Freeways war um diese Uhrzeit nicht allzu viel los. Trotz des Regens kam Alex gut voran – die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 11:32 an, als er vor dem Haus seiner Ex-Frau vorfuhr.
Er blieb sitzen und lauschte dem Surren der Kühlung, dem leisen, gleichmäßigen Geräusch des Regens auf dem Dach. Durch die Windschutzscheibe sah er das Haus: die erleuchtete Veranda, die schimmernde Aluverkleidung, jedes Fenster ein gelbes, mit Vorhängen verhangenes Viereck. Hier war die Welt noch in Ordnung, ruhig, gemütlich, heimelig. Alles, was er je gewollt hatte.
Nach einer Weile stieg er aus. Normalerweise wäre er zur Tür gesprintet, um dem Regen zu entkommen, doch er war zu sehr damit beschäftigt, sich zu überlegen, was er eigentlich sagen sollte. Das heißt, er wusste, was er sagen wollte, aber wie? Keine Ahnung. Deshalb schlich er langsam durch den Vorgarten, bis er endlich mit zittrigen Fingern auf die Klingel drückte. Das sanfte Ding-Dong wurde von den prasselnden Tropfen beinahe übertönt. Er fragte sich, wie es sich wohl von drinnen anhörte.
Schritte im Haus. Scott öffnete ihm – er wirkte überrascht, bemühte sich aber sofort um einen neutralen Gesichtsausdruck. Sein schattiger Umriss verdunkelte das Licht aus dem Flur. »Alex.«
»Hallo, Scott. Tut mir leid, dass ich so spät störe. Ich muss mit Cassie reden. Dauert nur ein paar Minuten.«
»Das geht leider nicht.«
»Sie ist meine Tochter.«
»Ich weiß, und natürlich kannst du sie sehen. Aber das haben wir doch schon tausendmal besprochen. Du kannst nicht einfach so hier auftauchen, erst recht nicht kurz vor Mitternacht. Du musst uns rechtzeitig Bescheid sagen, damit wir …«
»Jetzt komm schon.«
Scotts Augen verengten sich. »Warum warst du heute bei dem Spiel?«
»Weil ich meine Tochter spielen sehen wollte. Mann, das klingt ja, als wär ich eine Gefahr für Cassie!«
»Nein, du würdest ihr niemals absichtlich wehtun. Das weiß ich.«
»Und was soll das jetzt wieder heißen?«
Scott zuckte die Schultern. »Ich glaube, das weißt du selbst am besten.«
Alex war fünf Zentimeter größer und knapp zehn Kilo schwerer als sein Gegenüber. Er hätte ihn ohne Weiteres zur Seite schieben und reingehen können. Einfach an ihm vorbei, die Treppe rauf, in Cassies Zimmer, die Tür schließen, seine Tochter in den Arm nehmen und festhalten. Und ihr ins Ohr flüstern, dass er …
Ja, was?
Dass er sie liebte?
Dass alles gut
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