Der Ausloeser
geronnen zu einer fauligen, zuckenden Masse. Mein Gott, in was waren sie da nur hineingeraten? Am liebsten hätte sie sich unter dem Tisch verkrochen wie ein kleines Kind. »Hätten wir Johnny nicht überfallen«, überlegte sie laut, »wäre das Zeug noch im Umlauf.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass wir nichts damit zu tun haben. Wir haben es nicht hergestellt, wir wollten es nicht weiterverkaufen. Das ist alles nicht unsere Schuld.«
»Bitte?«
»Du hast es doch selber gesagt: Wir sind dem Deal nur in die Quere gekommen. Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort, und dabei ist uns das Zeug zufällig in die Hände gefallen. Und deswegen ist es nicht unsere Schuld, wenn –«
»Hast du mir denn gar nicht zugehört?«, fragte Ian. »Eine solche Menge Sarin könnte Hunderte …«
»Victor wird meine Eltern umbringen. Und deinen Dad und Mitchs Bruder und Alex’ Tochter.« Ja, sie dachte nur an sich selbst, aber musste sie deswegen gleich ein schlechtes Gewissen haben? Das war doch ganz normal. Jeder würde zuerst die eigene Familie beschützen.
»Aber du kannst doch nicht so tun …«
»Doch. Ich sehe die Situation bloß realistisch. Meinetwegen ist es moralisch falsch, aber wenn wir nicht mitspielen, bringt Victor unsere Familien um. Und davon abgesehen haben wir mit dem Zeug wirklich nichts zu tun.«
Wieder wurde es still. »Eigentlich«, sagte Mitch nach einer Weile, »ist es wie in deinem Spiel, Ian. Eine Zwickmühle. Man kann nicht gewinnen, man kann nur mehr oder weniger verlieren. Also was ist besser? Ein paar Menschen zu opfern, die man liebt – oder sehr, sehr viele Menschen zu opfern, die man noch nie gesehen hat?«
Ians Augen wanderten von ihr zu Mitch. »Aber es ist kein Spiel. Es ist real.«
»Ja. Und Victors Drohung ist genauso real.«
»Sicher, aber so ein Nervengas kann Hunderte von Menschen töten, wenn nicht Tausende. Und woher willst du wissen, dass sie im Irak oder in Afghanistan zuschlagen werden? Warum nicht hier in Chicago oder in New York? Um fünf Uhr nachmittags in der U-Bahn?«
»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte Jenn. »Davon war nie die Rede.«
»Natürlich nicht.« Mitch ging zum Fenster.
Was für eine surreale Situation. Jenn fühlte sich wie früher, wenn sie donnerstagabends die wildesten Sachen zusammengesponnen hatten. Alles nicht ernst gemeint, alles mit einem ironischen Augenzwinkern versehen. Sie fühlte sich wie damals, in ihrem alten, normalen Leben, als ihre Tage noch um die Arbeit, die Miete und ihre unvermeidlichen Liebschaften gekreist waren. Ein einziges, großes Spiel.
Wie ihr Leben.
Sie hatten alle bloß Wasser getreten. Sie hatten mitgespielt, ohne die Karten auf den Tisch zu legen, ohne etwas zu riskieren. Sie hatten sich mit ihren miesen Jobs begnügt, sich eingeredet, dass es um etwas ganz anderes ging. Dass es letztendlich um gar nichts ging.
»Wisst ihr noch …«, fragte Mitch, der immer noch aus dem dunklen Fenster starrte. »Wisst ihr noch, wie wir uns über die Manager und Politiker aufgeregt haben, die ihre eigenen Interessen über das Wohl der Allgemeinheit stellen? So hat das doch alles angefangen: Wir dachten uns, denen zeigen wir’s, Johnny ist doch auch so einer. Einer, der sich die Regeln zurechtbiegt, wie es ihm gefällt. Und jetzt? Jetzt denken wir genauso.«
»Also was sollen wir tun?«
Er atmete ein. »Ich weiß nur, was ich ganz sicher nicht tun werde.«
»Was?«
»Ich werde mich nicht mit dem kleineren Übel begnügen«, sagte er mit ruhiger, fester Stimme, den Blick weiter aufs Fenster gerichtet.
»Aber …«
»Es muss eine dritte Möglichkeit geben. Es muss auch anders gehen.«
Stille.
»Wisst ihr was?« Er drehte sich um. »Es gibt eine dritte Möglichkeit.«
»Und die wäre?«
»Ich geh mit dem Zeug zur Polizei. Ich stelle mich.«
»Aber … in der Gasse … du …« Selbst jetzt konnte sie es nicht aussprechen.
»Ja. Ich habe einen Menschen umgebracht.« Jenn registrierte die Anspannung in seiner Stimme. »Ich habe einen Menschen erschossen. Und das werde ich gestehen.«
»Sie werden dich verhaften«, meinte Ian.
»Ja.« Er zuckte die Schultern. »Trotzdem. Es ist die einzige Möglichkeit. Ich übernehme die Verantwortung für das, was ich getan habe.«
»Aber das ist doch Wahnsinn. Dafür kommst du ins Gefängnis.«
»Und da gehöre ich vielleicht auch hin.« Ein erstes Zittern in seiner Stimme. Trotzdem sprach er weiter. »Ich bin viel zu lange weggelaufen. Ich dachte, ich könnte mich in
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