Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
Vom Netzwerk:
Loser hätte zugegeben, dass ihm Howard Leid tue.«
    »Klassische Foltertaktik«, murmelte Jonathan. »Die Scylla der Isolation und die Charybdis der Angst.«
    Roy hielt in seiner Arbeit inne. Das Wort »Scylla«
    – Cill? – hatte immerhin eine Saite bei ihm ange-schlagen. »Wenn Sie Englisch reden würden«, sagte er mühsam beherrscht, »würde ich vielleicht wissen, worum es geht.«
    143

    »Scylla und Charybdis waren sechsköpfige Ungeheuer, die auf Klippen im Mittelmeer hausten«, erklärte George. »In Homers Odyssee muss Odys-seus sein Schiff zwischen ihnen hindurchlenken, ohne vom einen oder vom anderen vernichtet zu werden.«
    Roy war sichtlich erleichtert. »Ich glaub’s Ihnen«, brummte er, »aber das ist immer noch kein Englisch.«
    »Howard war in einer Zwickmühle«, erklärte Jonathan. »Er wurde herumgestoßen, weil er keine Freunde hatte, und er hatte keine Freunde, weil er immer herumgestoßen wurde. Er konnte sich eigentlich nur in sich selbst verkriechen. Das äußere Zeichen seiner seelischen Not waren die Schnitte in den Armen.«
    Roy zuckte mit den Schultern. »Ich kann da nichts dafür. Sie können nicht allen anderen die Schuld geben, nur weil Howard nicht den Mumm hatte, sich zu verteidigen. Wir sind alle gepiesackt worden, aber die meisten von uns lernen, damit fertig zu werden.« Er nahm die Schüssel mit dem Eintopf von einer Wärmeplatte auf der Kredenz und stellte sie auf einen Untersetzer in der Mitte des Tischs.
    »Guten Appetit«, sagte er und verschwand wieder.
    »Hat er auch zu denen gehört, die Howard gepiesackt haben?«, fragte Jonathan, die Hand auf der Armlehne seines Sessels unwillkürlich zur Faust ballend.
    144

    George bemerkte es und hörte auch die Schärfe in seinem Ton. »Wahrscheinlich«, antwortete sie aufrichtig. »Aber da gehörten alle Kinder dazu.
    Ich glaube, es wäre nicht gerecht, Roy allein her-auszugreifen. Er war fünf oder sechs Jahre jünger als Howard, ist also nicht mit ihm zusammen zur Schule gegangen, und die Schulkameraden haben es am schlimmsten getrieben.« Sie hievte mit einiger Mühe ihr breites Gesäß aus dem Sessel und trat an den Tisch. »Vielleicht war Sündenbock das falsche Wort. Prügelknabe wäre wahrscheinlich passender. Dem ersten wurden die Sünden der Juden auferlegt, bevor er in die Wüste geschickt wurde; der zweite bekam die Prügel für die Vergehen anderer. In beiden Fällen entkamen die Schuldigen der Strafe. Ein sehr verdrehtes Konzept.«
    »Aber ein altes.« Jonathan zog den anderen Stuhl heraus. »Jesus ist für die Sünden der Welt am Kreuz gestorben. Oder erinnere ich mich da falsch?«
    Sie lächelte fein. »Nein, und das wissen Sie auch ganz genau.« Sie schüttelte ihre Serviette aus.
    »Aber zwischen Gottes Sohn, der die Welt erlöst, und irgendeinem armen Kerl, von dem das Gleiche erwartet wird, besteht doch ein gewaltiger Unterschied.« Sie ergriff seinen Teller und gab von dem Lammeintopf darauf. »Noch ein Tieropfer«, bemerkte sie scherzend, als sie ihm den Teller zurückreichte. »Nehmen Sie vom Gemüse. Soviel ich weiß, mussten die Pflanzen nie für die Sünden 145

    der Menschen herhalten. Oder irre ich mich, Dr.
    Hughes?«
    So ging es beim Essen weiter. Ernsthafte Bemerkungen wechselten sich mit scherzhaften kleinen Spitzen ab. Sie schien ganz versessen darauf, ihm zu beweisen, dass sie rundum gebildet war, und er überließ ihr das Reden, während er sich mit dem Eintopf herumschlug. Er hatte, wie meistens, kaum Appetit, und nach fünf Minuten schob er den Teller mit der kaum zur Hälfte ge-gessenen Mahlzeit weg und zündete sich eine Zigarette an, ohne um Erlaubnis zu fragen, damit sie gar nicht erst Nein sagen konnte. Er hätte gern seine Jacke ausgezogen, aber er fürchtete, sie würde die abgewetzten Manschetten seines Hemdes bemerken.
    Hin und wieder versuchte er, den Redefluss zu unterbrechen. Seine Fragen waren sachlicher Natur. Gab es Howards ehemalige Grundschule noch? Konnte man hoffen, dass es dort noch Unterlagen gab? Welche höhere Schule hatte er besucht? Gab es die noch? Gab es dort Unterlagen?
    Sie antwortete durchaus bereitwillig, schweifte dann aber sofort wieder ab, und er wurde immer frustrierter. Er wollte sie daran erinnern, dass sie auf ihren Vorschlag hierher gekommen waren, um Informationen auszutauschen, aber er wusste nicht, wie er es anfangen sollte, weil er den Umgang mit redseligen älteren Frauen, die Grimassen schnitten 146

    und nach einem halben Glas Wein zu kichern

Weitere Kostenlose Bücher