Der Außenseiter
zurück.
»Waren schriftliche Unterlagen Ihre einzige Quelle?
Haben Sie nie daran gedacht, in Bournemouth Leute ausfindig zu machen, die Howard noch gekannt haben?«
Noch mehr Kritik. »Bis heute nicht, nein. Aber ich bin auch im Zuge meiner Recherchen über Kiszko und Downing nicht nach Rochdale und Bakewell gereist.«
»Hielten Sie das nicht für wichtig?«
»Meine fachliche Stärke liegt in der Prüfung und Analyse verfügbarer Unterlagen, nicht darin, von Haus zu Haus zu gehen und nach verschwundenen Zeugen zu suchen. Der Fall Stamp war nur ein Kapitel in einem umfangreichen Buch, das zu schreiben ich länger als ein Jahr gebraucht habe.
Meiner Meinung nach war hinreichend Material vorhanden, um die Möglichkeit eines Justizirrtums zu postulieren, und Sie stimmen mir offensichtlich 150
zu, sonst hätten Sie mir wohl nicht geschrieben.
Jetzt geht es darum, die Sache weiterzuverfolgen.«
»Ich möchte Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten«, sagte sie. »Mich interessiert lediglich, wie ein Akademiker so ein Thema angeht. Ich hätte selbst gern an einer anerkannten Universität studiert, aber das war Ende der Sechzigerjahre für die Tochter eines Briefträgers nicht so einfach.«
Bitte nicht! Glaubte sie denn, Ende der Achtzigerjahre wäre es für einen Mischling aus der Sozialsiedlung leichter gewesen, ein Stipendium in Oxford zu bekommen? »Eben weil ich es für wichtig halte, Leute ausfindig zu machen, die Howard kannten, habe ich in dem Buch eine Kontaktadresse angegeben«, erwiderte er geduldig. »Nur darum bin ich heute hier …« – er nahm sich eine neue Zigarette –, »auch wenn ich nicht das Gefühl habe, vorwärts zu kommen.«
»Weil Sie der Meinung sind, Ihr Programm sei wichtiger als meines.«
Er hielt die Flamme seines Feuerzeugs an die Zigarette. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Körpersprache.«
Herrgott noch mal, sei doch nicht so verdammt steif. Du siehst aus, als hättest du einen Besenstiel verschluckt.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Stört es Sie, wenn ich meine Jacke ausziehe?«
Sie bemerkte, dass er schwitzte. »Überhaupt nicht.«
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Sie wartete, während er aufstand und gewissenhaft seine Taschen leerte, bevor er das Jackett aus feiner Wolle über den Stuhlrücken hängte. Er verstaute Brieftasche, Pass und zwei Stifte in seiner Aktentasche, dann knöpfte er die Hemdsärmel auf und schlug sie um. Eine interessante Nummer, dachte sie – wie einstudiert.
»Ich frage das alles nur«, erklärte sie, nachdem er sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, »weil ich im Gegensatz zu Ihnen eine Menge herumgelaufen bin, seit ich das erste Mal von Howard hörte.« Sie nahm einen Hefter aus der Tragtüte, die sie mitgebracht hatte. »Das sind meine Notizen.«
Die Akte war gut fünf Zentimeter dick.
»Darf ich sie sehen?«
»Noch nicht«, sagte sie mit überraschender Bestimmtheit.
»Zuerst würde ich gern hören, was Sie damit vor-haben.«
»Vorausgesetzt, sie enthalten neue Erkenntnisse
– und natürlich nur mit Ihrer Genehmigung –, werde ich sie in einem neuen Buch verwenden.«
»Worüber? Über Howard – oder über die Ungerechtigkeit unseres Gerichtswesens?«
»Über beides, aber in erster Linie über Howard.«
»Darf ich fragen, warum?«
Jonathan sah keinen Grund, nicht ehrlich zu sein. »Mein Agent ist beeindruckt von den vielen Briefen, die ich bekommen habe. Nicht alle sind 152
natürlich positiv, aber es scheint doch ein beträchtliches Interesse an Howard Stamps Geschichte vorhanden zu sein.«
»Und Ihr Agent meint, dass das Buch sich gut verkaufen wird?«
Er nickte.
»Das ist gut.« Sie stützte das Kinn in die Hände.
»Jetzt sage ich Ihnen, warum mich der Fall interessiert. Wie ich Ihnen in meinem ersten Brief geschrieben habe, hörte ich das erste Mal von einer Nachbarin, die Grace vom Sehen kannte, von der Geschichte. Sie grüßten einander auf der Straße, aber sie waren nicht befreundet und verkehrten nicht miteinander. Immer wenn diese Nachbarin über den Mord sprach, betonte sie die Grausigkeit der Tat und das allgemeine Entsetzen darüber. Sie sagte, dass sie sich erst nach Monaten wieder aus dem Haus wagte und erst nach Jahren ihre Haustür wieder ohne Furcht vor einem Mörder öffnete – ob-gleich Howard da längst verurteilt war.« Sie schwieg einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen.
»Ich fragte sie, ob sie glaube, man habe den Richtigen gefasst«, fuhr sie dann fort, »und sie sagte, nein. Andere hätten sich von seinem
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