Der Azteke
geradezu greifbare Sinnlichkeit, ganz zu schweigen von ihrer Hoffart und ihrer Neigung zu jähen Zornesausbrüchen. Kein einziges Mal bediente sie sich des rüden Namens Hole!, wenn sie von mir sprach. Irgendwie hielt sie die wirkliche Jadestein Puppe verborgen – topco petlacalco, »im Beutel oder im Kasten«, wie wir von einem Geheimnis sagen.
In Anwesenheit ihres Gebieters lag sie weder schmachtend auf ihrer Ruhebank, ja, saß nicht einmal auf einem Stuhl, sondern kniete zu seinen Füßen, die Knie schicklich zusammengenommen, die Augen sittsam niedergeschlagen, und sprach mit kindlich-schüchterner Stimme. Selbst mich hätte sie damit zum Narren halten und mich glauben machen können, sie sei höchstens zehn Jahre alt; nur wußte ich, daß sie selbst in diesem zarten Alter bereits mit allen Wassern gewaschen gewesen war.
»Ich hoffe, du findest dein Leben nicht mehr so eingeengt«, sagte Ne-zahualpili, »jetzt, wo du Mixtli zum Gefährten hast.«
» Ayyo, ja, mein Gebieter«, sagte sie und lächelte, daß sich ihre Grübchen reizvoll vertieften. »Er ist ein unschätzbarer Begleiter. Mixtli zeigt mir vieles und erklärt es mir. Gestern hat er mich in die Bibliothek mitgenommen, welche die Dichtungen Eures geschätzten Vaters enthält, und hat mir einige seiner Gedichte vorgelesen.«
»Und haben sie Euch gefallen?« erkundigte sich der Uey-Tlatoáni.
»Oh, sehr sogar. Allerdings meine ich, Gedichte von Euch, mein Gemahl, würde ich noch lieber hören.«
Folglich sprach Nezahualpíli einige seiner Gedichte, freilich mit einer Bescheidenheit, die ihm wohl anstand. »Sie klingen selbstverständlich besser, wenn mein Trommler mich begleitet.« Eines davon, in dem der Sonnenuntergang gepriesen wurde, schloß mit den Zeilen:
… Gleich einem leuchtenden Blumenstrauß
Wirft unser strahlender, unser schimmernder Gott, die Sonne,
Sich in ein Gefäß aus
Reinstem Edelgestein, und der Tag ist dahin.
»Bezaubernd«, hauchte Jadestein Puppe. »Das stimmt mich ein wenig schwermütig.«
»Der Sonnenuntergang?« fragte Nezahualpíli.
»Nein, mein Gebieter – daß Ihr die Götter erwähnt. Ich weiß, daß ich nach und nach all die Götter Eures Volkes kennenlernen werde. Doch inzwischen habe ich keine meiner altgewohnten Götter um mich. Wäre es allzu dreist, wenn ich meinen Verehrten Gatten um die Erlaubnis bäte, ein paar Statuen der Lieblingsgötter meiner Familie aufzustellen?«
»Meine liebe kleine Puppe«, sagte er nachsichtig, »Ihr könnt alles haben, was Euch glücklich und weniger von Heimweh geplagt macht. Ich werde Pixquitl zu Euch schicken, meinen Hofbildhauer, und Ihr braucht ihm nur zu sagen, nach welchen Götterbildern Euer sanftes Herz sich sehnt, und er wird sie Euch machen.«
Als Nezahualpíli diesmal ihre Gemächer verließ, forderte er mich durch eine Geste auf, ihn zu begleiten. Ich folgte dieser Aufforderung und befahl stumm meinen Schweißporen, weiterhin ihre Schleusen nicht zu öffnen, denn ich war fest davon überzeugt, daß er mich danach ausfragen werde, was Jadestein Puppe denn tue, wenn sie gerade keine Bibliotheken besuche. Zu meiner großen Erleichterung erkundigte der Verehrte Sprecher sich jedoch nach meinem eigenen Tun.
»Ist es eine große Belastung für dich, Maulwurf?«, fragte er sehr freundlich, »wenn du deiner jungen Dame Schwester soviel Zeit opferst?«
»Nein, Gebieter«, log ich. »Sie ist äußerst rücksichtsvoll und verlangt nicht, daß ich über meinem Dienst bei ihr meine Ausbildung vernachlässige. Erst am Abend plaudern wir miteinander, streifen durch den Palast oder gehen in der Stadt spazieren.«
»Wenn ihr euch unterhaltet«, sagte er, »würde ich dich bitten, dich möglichst zu bemühen, ihr den Mexícatl-Akzent abzugewöhnen. Du selbst hast unsere Texcocóer Sprechweise so rasch angenommen. Ermuntere sie doch, sich in der Aussprache einer etwas größeren Eleganz zu befleißigen, Kopf Neiger.«
»Gewiß, mein Gebieter. Ich werde es versuchen.«
Er fuhr fort: »Unser Ober-Unterweiser in der Wortkunde hat mir berichtet, du habest es in der Kunst des Bilderschreibens binnen kurzer Zeit bewundernswert weit gebracht. Könntest du möglicherweise noch etwas von deiner Freizeit erübrigen, um dieses Können praktisch anzuwenden?«
»Aber gewiß doch, mein Gebieter!« erklärte ich mit Feuereifer. »Ich werde dafür sorgen, daß ich Zeit habe.«
Auf diese Weise begann endlich meine eigentliche Laufbahn als Schreiber, und das weitgehend dank Jadestein
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