Der Azteke
Puppes Vater, Ahuítzotl. Unmittelbar nach seiner Krönung zum Uey-Tlatoáni von Tenochtítlan hatte Ahuítzotl höchst wirkungsvoll sein überragendes Können als Herrscher bewiesen, indem er den Huaxtéca der Nordwestküste den Krieg erklärte. Unter seiner persönlichen Führung hatte ein aus Mexíca, Acólhua und Tecpanéca bestehendes Heer diesen Krieg binnen eines Monds zu einem siegreichen Ende gebracht. Die Heere hatten reiche Kriegsbeute mit nach Hause gebracht, und das unterworfene Volk wurde wie üblich zu jährlichen Tributzahlungen verpflichtet. Die Beute sowie die Tribute sollten, wie gleichfalls üblich, unter dem Dreibund verteilt werden: jeweils zwei Fünftel an Tenochtítlan und Texcóco sowie ein Fünftel an Tlà-copan.
Die mir von Nezahualpíli zugedachte Aufgabe bestand darin, sämtliche von den Huaxtéca bereits gelieferten sowie noch ausstehenden Posten einzeln in einem Hauptbuch aufzuführen, und außerdem die verschiedenen Waren – Türkis, Kakao, Baumwollumhänge, Röcke und Obergewänder sowie Ballen Baumwolltuch – in andere Bücher einzutragen, aus denen dann zu ersehen war, wo und wie sie auf die verschiedenen Texcócoer Lagerhäuser verteilt wurden. Es handelte sich um eine Aufgabe, bei der ich sowohl mein Können in der Bilderschrift als auch im Rechnen üben konnte; ich warf mich mit viel Freude darauf und nahm mir bewußt vor, meine Sache besonders gut zu machen.
Doch wie schon gesagt verstand auch Jadestein Puppe, meine Fähigkeiten zu nutzen; abermals ließ sie mich rufen und befahl mir, meine Suche nach »hübschen Männern« zu erneuern und Skizzen von ihnen zu liefern. Bei dieser Gelegenheit beklagte sie sich mir gegenüber über die Unfähigkeit des Hofbildhauers.
»Wie mein Gemahl mir gestattete, bestellte ich diese Statue und gab dem alten Narren von Bildhauer, den er schickte, genaue Anweisungen. Aber schau sie dir an, Hole! Eine Ungeheuerlichkeit!«
Ich sah sie mir an: eine lebensgroße männliche Gestalt, in Ton modelliert, mit lebensechten Farben bemalt und dann hart gebrannt. Sie stellte keineswegs einen mir bekannten Gott der Mexíca dar, hatte jedoch etwas, was mir merkwürdig vertraut vorkam.
»Die Acólhua sollen in den Künsten Treffliches leisten«, sagte sie voller Verachtung. »Aber wisse, Hole! Ihr anerkannter Meisterbildhauer beweist eine beklagenswerte Unfähigkeit, verglichen mit dem Können einiger weniger berühmter Künstler, von denen ich daheim Arbeiten gesehen habe. Wenn Pixquitl meine nächste Statue nicht besser macht als diese hier, werde ich diese unbekannten Mexíca aus Tenochtítlan kommen lassen und ihn der Schande preisgeben. Geh hin und sag ihm das!«
Ich freilich hegte den starken Verdacht, daß die Dame nur einen Vorwand suchte, nicht Künstler, sondern ehemalige Liebhaber nach Texcóco zu bringen, an denen sie noch hing. Aber gleichwohl – wie befohlen, suchte ich den Hofbildhauer Pixquitl in seiner unter der Erde gelegenen Werkstatt auf. Dort toste laut das Feuer der Brennöfen sowie das Hämmern und Meißeln seiner Studenten und Lehrlinge. Ich mußte schreien, um ihm Jadestein Puppes Beschwerde und Drohung zu übermitteln.
»Ich habe mein möglichstes getan«, erklärte der schon etwas betagte Künstler. »Die junge Königin wollte mir aber nicht einmal den Namen ihres erwählten Gottes nennen, und so konnte ich mich nicht an andere Statuen oder gemalte Bilder von ihm halten. Das einzige, wonach ich mich richten konnte, war dies hier.«
Mit diesen Worten zeigte er mir eine Kreidezeichnung auf Borkenpapier – meine eigene Skizze, die ich von Yeyac-Netztlin gemacht hatte. Ich wußte wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Wieso hatte Jadestein Puppe das Standbild eines Gottes in Auftrag gegeben – gleichgültig, um welchen Gott es sich auch handelte – und befohlen, daß er aussähe wie ein einfacher sterblicher Schnellbote? Da ich jedoch annahm, sie würde mich anfauchen und mir bedeuten, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, fragte ich sie nicht danach.
Als ich meinen nächsten Stapel Zeichnungen ablieferte, legte ich in voller Absicht und nicht nur zum Scherz das Bild von Jadestein Puppes legitimem Gatten, des Verehrten Sprechers Nezahualpíli, dazu. Sie bedachte sowohl die Skizze als auch mich nur mit einem verächtlichen Schnauben, als sie sie beiseitelegte. Das Bild, welches sie diesmal wählte, war das eines jungen Untergärtners im Palast, namens Xali-Otli; ihm mußte ich am nächsten Tag ihren
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