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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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gewonnen, die zufällig die Tochter des Tecútli war. Er heiratete sie und wurde dadurch zu Améyatzin, Herr Quell.
    Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß Herr Rot Reiher ein leutseliger und großzügiger, vor allem aber gerechter Mann war. Als seine eigene Tochter, Tautropfen, ihres niedrig geborenen Herrn Quell überdrüssig und beim Ehebruch mit einem schon durch Geburt blaublütigen Pili ertappt wurde, verurteilte Rot Reiher beide – sie und den Ehebrecher – zum Tode. Viele andere Adlige verwendeten sich dafür, daß die Frau nicht getötet, sondern nur von der Insel verbannt werde. Selbst ihr Gatte schwor, er verzeihe seiner Frau den Ehebruch; er und Tautropfen würden die Insel verlassen und in ein fernes Land ziehen, doch der Tecútli ließ sich nicht erweichen, obgleich er – wie wir alle wußten – gerade dieser Tochter ganz besonders zugetan war.
    Er sagte: »Man würde mich der Ungerechtigkeit zeihen, wenn ich – wo es um meine eigene Tochter geht – ein Gesetz beuge, das sonst bei meinen Untertanen mit Strenge durchgesetzt wird.« Und er sprach zu Herrn Quell: »Das Volk würde eines Tages behaupten, Ihr hättet meiner Tochter nur aus Achtung vor meinem Amt verziehen, nicht jedoch aus freien Stücken.« Und er befahl, daß jede andere Frau und jedes junge Mädchen in seinen Palast komme und Zeugin der Urteilsvollstreckung werde. »Besonders die ledigen Mädchen im heiratsfähigen Alter«, sagte er, »denn in ihnen lodert das Feuer gleichfalls. Möglich, daß sie Verständnis für die Liebelei meiner Tochter aufbringen oder sie vielleicht sogar darum beneiden. Ihr Sterben sollte heilsam für sie sein; es ist besser, sie denken einmal darüber nach, was für schwerwiegende Folgen so etwas haben kann.«
    Folglich ging meine Mutter zur Hinrichtung und nahm Tzitzitlíni mit. Hinterher erzählte meine Mutter, Tautropfen und ihr Geliebter seien vor aller Augen mit Stricken erdrosselt worden, die man in Blumengirlanden versteckt habe; die junge Frau habe ihre Bestrafung alles andere als würdevoll über sich ergehen lassen, sei von Entsetzen gepackt gewesen, habe gefleht und sich gewehrt – und ihr betrogener Ehemann habe um sie geweint; der Herr Rot Reiher jedoch unbewegten Gesichts zugesehen. Tzitzi sagte nichts zu dem Schauspiel. Dafür vertraute sie mir an, im Palast den jüngeren Bruder der Verurteilten getroffen zu haben, Rot Reihers Sohn Pactli.
    »Lange hat er mich angeblickt«, sagte sie und erschauerte. »Er lächelte mich an und entblößte dabei die Zähne. Ist so etwas zu begreifen – an einem solchen Tag; und wie er mich angesehen hat – ich habe richtig eine Gänsehaut dabei bekommen.«
    Ich hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, daß Rot Reiher an diesem Tag nicht lächelte. Aber ihr begreift, warum alle Menschen auf der Insel unseren unparteiischen und auf Gerechtigkeit bedachten Tecútli so schätzten.
    Inzwischen blühte und gedieh unser Gemeinwesen, und wir führten ein bequemes und ungestörtes Leben. Wir, die wir das Glück hatten, auf Xaltócan zu leben, brauchten nicht unser ganzes Denken und Trachten und all unsere Kraft darauf zu richten, unseren Lebensunterhalt zu sichern. Wir konnten sogar über den Bereich unserer Inseln hinausschauen und den Blick zu ferneren Horizonten und zu Höhen erheben, die über jenen lagen, in die wir hineingeboren worden waren. Wir durften uns Wunschträumen hingeben, wie etwa meine Freunde Chimáli und Tlatli. Beider Väter waren Steinmetze und Bildhauer in den Steinbrüchen, und im Gegensatz zu mir, wollten diese beiden Jungen in die Fußstapfen ihrer Väter treten und Künstler werden, nährten dabei jedoch einen größeren Ehrgeiz, als ihre Väter es je getan hatten.
    »Ich möchte als Bildhauer besser werden als mein Tete«, erklärte Tlatli und schnitzte an einem weichen Stein herum, der allmählich die Gestalt eines Falken annahm – jenes Vogels, nach dem er benannt worden war.
    Er fuhr fort: »Ich werde Bildwerke schaffen – anders als alles, was bisher gemacht worden ist. Und keine zwei davon – nicht einmal meine eigenen – werden sich gleichen. Trotzdem werden sie alle als mein Werk zu erkennen sein, und die Leute werden ausrufen: ›Ayyo, eine Statue des Tlatli !‹ Ich werde sie nicht einmal mit meinem Falkensymbol zu zeichnen brauchen.«
    Doch unser gemeinsamer Freund Chimáli richtete den Blick in womöglich noch weitere Fernen als Tlatli. Ihm schwebte vor, die Kunst der Malerei so sehr zu verfeinern, daß das Gemalte auf

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