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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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schwarzes oder braunes Haar, so daß es eine unnatürliche Gelbtönung annahm, so wie sie manche eurer eigenen Frauen aufweisen.
    Selbstverständlich geben die Götter nichts umsonst, und von Zeit zu Zeit forderten sie für den Reichtum von Kalkstein, den wir auf Xaltócan brachen, ihren Tribut. Zufällig war ich einmal bei meinem Vater im Steinbruch, als die Götter beschlossen, ein solches Dankopfer von uns zu fordern.
    Eine Anzahl von Trägern war dabei, einen gewaltigen, frisch abgesprengten Quaderstein jene lange Rampe hinaufzuschleifen, die sich in sanft ansteigender Windung vom Boden des Steinbruchs bis oben an den Rand hinaufzog. Die Männer schafften das ausschließlich mit ihrer Muskelkraft. Ein jeder hatte sich ein Zugseil über die Stirn gelegt, dessen Ende mit einem Netz aus dicken Stricken verknüpft war, und gemeinsam zogen sie damit den Block in die Höhe. Irgendwo ziemlich weit oben auf der Rampe rutschte der Block zu weit an den Rand oder kippte aufgrund irgendeiner Unregelmäßigkeit im Boden auf die Seite. Wie auch immer, jedenfalls fiel er langsam aber unerbittlich in die Tiefe. Es gab viel Geschrei, und wenn die Träger nicht augenblicklich die Zugseile von der Stirn abgeworfen hätten, wären sie zusammen mit dem Block in die Tiefe gerissen worden. Ein Mann jedoch, der tief unten im Lärm des Steinbruchs arbeitete, hörte die warnenden Rufe nicht. Der Quaderstein fiel direkt auf ihn, und eine der Kanten traf ihn wie die Schneide einer Steinaxt genau in der Leibesmitte.
    Der Kalksteinblock hatte eine so tiefe Kerbe in den Boden des Steinbruchs geschlagen, daß er auf der scharfen Kante waagrecht liegen blieb. Daher war es meinem Vater und den anderen Männern, die an die Unglücksstelle eilten, ein Leichtes, den Quader hochzuheben und zu kippen. Zu ihrer Verwunderung stellten sie fest, daß das Opfer der Götter noch am Leben, ja, bei vollem Bewußtsein war.
    In der ganzen Aufregung kam ich unbemerkt näher und sah den Mann, der jetzt aus zwei Teilen bestand. Von der Hüfte aufwärts war sein nackter verschwitzter Körper unverletzt, hatte er nicht eine Schramme abbekommen. Seine Hüfte jedoch war breit- und flachgequetscht, so daß sein Oberkörper selbst einer Axt oder einem Meißel glich. Der Stein hatte ihn – samt Haut, Fleisch, Eingeweiden und Rückgrat – genau in der Mitte durchgetrennt und gleichzeitig die Wunde so säuberlich zusammengedrückt, daß kein Tropfen Blut zu sehen war. Er hätte genausogut eine Baumwollpuppe sein können, die man in der Mitte durchgeschnitten und deren Schnitt man wieder zugenäht hatte. Seine untere Hälfte – noch mit seinem Schamtuch bekleidet – lag abgetrennt vor ihm, säuberlich zugedrückt und gleichfalls ohne Spur von Blut; seine Beine allerdings zuckten ein wenig, und außerdem gab diese Hälfte des Körpers große Mengen Urin und Kot von sich.
    Der ungeheuerliche Schnitt mußte all seine durchtrennten Nerven lahmgelegt und empfindungslos gemacht haben, so daß der Mann nicht einmal Schmerzen spürte. Er hob den Kopf und betrachtete mit einem leicht verwunderten Gesichtsausdruck seine beiden nicht mehr zusammenhängenden Körperhälften. Um ihm den grausigen Anblick zu ersparen, trugen die anderen Männer ihn – das heißt, seinen Oberkörper – rasch und behutsam beiseite und lehnten ihn gegen die Wand des Steinbruchs. Er streckte die Arme, machte die Hände auf und schloß sie wieder, drehte den Kopf und sagte mit schreckenerfüllter Stimme:
    »Ich kann mich bewegen und reden. Ich sehe euch alle, meine Kameraden. Ich kann die Hand ausstrecken, euch berühren und auch fühlen. Ich höre die Axtschläge. Ich rieche den bitteren Kalkgeruch. Ich bin noch immer am Leben. Es ist nicht zu fassen!«
    »Das ist es wahrhaftig nicht«, sagte mein Vater mit belegter Stimme. »Aber lange kann das nicht andauern, Xicama. Es hat nicht einmal Sinn, nach einem Arzt zu schicken. Was du brauchst, ist ein Priester. Von welchem Gott, Xicama?«
    Der Mann überlegte einen Moment. »Bald kann ich alle Götter begrüßen, wenn ich auch sonst zu nichts mehr nütze bin. Aber solange ich noch sprechen kann, möchte ich noch mit Kot Fresserin reden.«
    Der Ruf wurde bis an den Rand des Steinbruchs hinauf weitergegeben, und von dort aus machte sich ein Läufer auf, einen Priester der Erdgöttin Tlazoltéotl oder Kot Fresserin herbeizuholen. Trotz ihres so ganz und gar nicht lieblichen Namens, war sie eine höchst mitleidige Göttin. Ihr pflegten Sterbende all ihre

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