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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Sünden und Mißtaten zu beichten – und sehr häufig auch Männer, die noch gar nicht an den Tod dachten, aber wegen eines Unrechts, das sie verübt hatten, besonders bedrückt und niedergeschlagen waren –, auf daß Tlazoltéotl ihre Sünden vertilgte, womit diese Sünden dann getilgt wären, als wären sie nie begangen worden. Deshalb belasteten sie einen Mann auch nicht mehr, sprachen nicht mehr gegen ihn und suchten auch seine Erinnerung nicht mehr heim, gleichgültig, in welche Gegenwelt er einging.
    Während wir auf den Priester warteten, hielt Ximaca die Augen betont von jener Stelle seines Körpers abgewandt, wo dieser in einen Spalt im Felsboden hineingedrückt zu sein schien, und redete ruhig, ja fast heiter mit meinem Vater. Er trug ihm Botschaften an seine Eltern, seine Witwe und seine verwaisten Kinder auf, machte Vorschläge, wie sein geringes Hab und Gut verteilt werden sollte, und überlegte laut, was seine Familie nun anfangen werde, wenn ihr Ernährer nicht mehr da wäre.
    »Mach dir deswegen keine Sorgen«, erklärte mein Vater. »Es ist dein Tonáli, daß dich die Götter zu sich nehmen im Austausch gegen den Wohlstand von uns, die wir zurückbleiben. Als Anerkennung für dein Opfer werden wir und unser Tecútli, der unserer Ratsversammlung vorsteht, dafür sorgen, daß deine Witwe angemessen entschädigt wird.«
    »Dann wird ihr ein erkleckliches Erbe zufallen«, sagte Xicama erleichtert. »Sie ist aber auch noch jung und eine schöne Frau. Bitte, Kopf Neiger, rede ihr gut zu, daß sie wieder heiratet.«
    »Das werde ich tun. Sonst noch etwas.«
    »Nein«, sagte Xicama, blickte um sich und lächelte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich es einmal bedauern würde, diesen traurigen Steinbruch zum letztenmal zu sehen. Weißt du was, Kopf Neiger? Selbst diese Grube im Felsen hier sieht im Augenblick schön und einladend aus. Die weißen Wolken da oben, dann der blaue Himmel und hier unten die weißen Steine … als ob über und unter dem Blau Wolken zögen. Allerdings wünschte ich, ich könnte die grünen Bäume oben sehen …«
    »Das wirst du«, versprach mein Vater ihm, »aber erst, wenn du mit dem Priester gesprochen hast. Bis dahin sollten wir besser nicht versuchen, dich zu bewegen.«
    Der Priester kam im ganzen Schwarz der wallenden schwarzen Gewänder, des blutverkrusteten schwarzen Haars und des nie gewaschenen, rußschwarzen Gesichts. Er war das einzige, was mit seiner Düsternis und Dunkelheit das reine Blau und Weiß besudelte, von dem Xicama so schweren Herzens Abschied nahm. Alle anderen Männer gingen fort, um die beiden allein zu lassen und nicht zu stören. (Mein Vater erspähte mich unter ihnen und gab mir mit einer ärgerlichen Handbewegung zu verstehen, ich solle verschwinden; ein solcher Anblick war nichts für einen Jungen meines Alters.) Während Xicama mit dem Priester beschäftigt war, hoben vier Männer seine stinkende und immer noch zuckende untere Hälfte auf, um sie nach oben zu tragen. Einer von ihnen erbrach sich unterwegs.
    Xicama hatte offensichtlich kein besonders sündiges Leben geführt; er brauchte nicht lange, Kotfresserin zu beichten, was er getan zu haben bereute oder zu tun unterlassen hatte. Als der Priester ihn im Namen der Göttin freigesprochen und alle rituellen Worte gesprochen sowie alle rituellen Gebärden vollführt hatte, trat er zurück. Vier andere Männer hoben behutsam den noch immer lebenden oberen Teil von Xicama auf und trugen ihn so schnell es ging, ohne ihn durch heftige Bewegungen zu erschüttern, die Rampe hinauf, die zum Rand des Steinbruchs emporführte. Wir hofften, daß er noch lange genug am Leben bleiben würde, um sein Dorf zu erreichen, sich von seinen Angehörigen zu verabschieden und zum Abschied noch allen jenen Göttern seine Verehrung bekunden könne, denen er persönlich den Vorzug gegeben hatte. Aber irgendwo auf der sich in die Höhe schraubenden Rampe platzte sein unten zusammengeklemmter Körper plötzlich auf und heraus tropften sein Blut, sein Morgenessen und etliche andere Substanzen. Xicama hörte auf zu sprechen und zu atmen, schloß die Augen und sollte die grünen Bäume doch nicht mehr zu sehen bekommen.
    Etliches von dem Kalkstein Xaltócans war schon vor langer Zeit zum Bau der icpac Tlamanacáli und Teocáltin unserer Insel verwendet worden – oder, wie ihr sagen würdet: unserer Pyramide und mehrerer Tempel. Ein bestimmter Anteil von dem gebrochenen Stein wurde stets bereitgestellt, um unsere Steuern, die

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