Der Azteke
Häuser selbst waren aus der Ferne nur als undeutliche dunkle Masse zu erkennen. Aber die Lichter, ayyo, die Lichter! Gelbe, weiße, rote, zirkonbraune und von den vielfältigsten Flammenfarben – hier und da, wo man Salze ins Altarfeuer eines Tempels oder Feilspäne vom Kupfer hineingestreut hatte, grüne oder blaue. Und jede einzelne von diesen schimmernden Perlen, Trauben und Bändern aus Licht blinkte doppelt auf, denn ein jedes spiegelte sich noch einmal auf der glatten Oberfläche des Sees. Selbst die steinernen Dammstraßen, welche sich von der Insel zum Festland hinüberspannten, selbst diese waren über ihre ganze Länge in bestimmten Abständen von Laternen auf hohen Pfählen erleuchtet. Von unserem Acáli aus konnte ich nur zwei dieser künstlichen Dammstraßen sehen – diejenigen, die in südlicher und in nördlicher Richtung von der Stadt hinwegführten. Jede von ihnen nahm sich aus wie eine schlanke, mit funkelnden Edelsteinen besetzte Kette, die sich um den Hals der Nacht schlang, während die Stadt in der Mitte wie ein großer, strahlend blitzender Anhänger auf dem Busen der Nacht ruhte.
»Tenochtítlan, Cem-Anàhuac Tlali Yolóco«, murmelte mein Vater. »Das hier ist wahrhaftig Herz und Mittelpunkt Der Einen Welt.« Ich war so gebannt und verzaubert gewesen von dem herrlichen Anblick, daß ich gar nicht gemerkt hatte, wie er am Bug unseres Frachtkahns neben mich getreten war. »Sieh lange hin, Sohn Mixtli. Kann sein, daß du dieses Wunder und viele andere Wunder mehr als einmal erlebst. Aber ein erstes Mal gibt es immer nur einmal.«
Ohne zu blinzeln und oder meine Augen von der Pracht abzuwenden, der wir uns nur allzu langsam näherten, lag ich bäuchlings auf einer dicken Fasermatte und starrte unentwegt hinüber, bis mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, die Augen zufielen und ich einschlief. Wiewohl der Lärm, die Geschäftigkeit und das Getriebe bei unserer Landung beträchtlich gewesen sein müssen, kann ich mich daran genausowenig erinnern wie daran, daß mein Vater mich in die nahegelegene Herberge für die Bootsleute trug, in der wir die Nacht verbrachten.
Als ich aufwachte, fand ich mich auf einer Strohschütte in einem ganz gewöhnlichen Raum wieder, in dem mein Vater und noch ein paar andere Männer schnarchend auf ihren eigenen Strohschütten lagen. Als mir aufging, daß wir in einer Herberge waren und vor allem, in welcher Stadt sich diese Herberge befand, sprang ich auf und lief an die Fensteröffnung, um mich hinauszulehnen – und einen kurzen Augenblick hindurch wurde mir ganz schwindelig, als ich von meiner Höhe hinunterblickte auf den gepflasterten Weg unten. Es war das erstemal, daß ich mich in einem Haus befand, welches auf einem anderen Haus stand. Oder zumindest glaubte ich das damals, bis mein Vater mir später von draußen zeigte, daß unser Raum im obersten Stockwerk der Herberge gelegen war.
Ich hob die Augen und schaute hinüber zu der Stadt jenseits des Hafengebietes. Sie schimmerte, sie waberte und glomm weiß im Licht der frühen Morgensonne. Ihr Anblick erfüllte mich mit Stolz auf meine Heimatinsel, denn sämtliche Häuser, die nicht geradezu aus weißem Kalkstein errichtet waren, waren mit weißem Stuck verkleidet, und ich wußte, daß der größte Teil des Materials aus Xaltocan stammte. Selbstverständlich trugen die Gebäude Wandbilder und waren mit Bändern und Gefachen aus leuchtenden Farben und Mosaiken geschmückt, doch der beherrschende Eindruck, der von der Stadt ausging, war der von einem blendenden, nahezu silbrigen Weiß, daß es den Augen fast wehtat.
Die Lichter vom gestrigen Abend waren jetzt alle gelöscht. Einzig ein noch schwelendes Tempelfeuer ließ irgendwo träge einen Rauchfaden in die Luft aufsteigen. Aber jetzt erblickte ich ein neues Wunder: Vom Dach eines jeden Hauses, Tempels oder Palastes in der Stadt, auf jedem höchsten Punkt erhob sich ein Fahnenmast, und von jedem Mast herab wehte ein Banner. Keine viereckigen oder dreieckigen Schlachtenbanner, sondern vielmehr schmale Wimpel, um ein Vielfaches länger als breit. Und alle waren sie weiß, bis auf das farbige Wappen in der Mitte. Manche von diesen Zeichen waren mir vertraut – das der Stadt selbst, das des Verehrten Sprechers Axayácatl sowie diejenigen mancher Götter –, andere jedoch kannte ich nicht: die Wappenzeichen der Tenochtítlaner Adelsfamilien und besonderer Stadtgötter, wie ich annahm.
Die Flaggen von euch weißen Männern sind stets aus Tuch und oft
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