Der Azteke
ihr nahm. Das tat ich auch nur, weil mein ursprünglicher Gastgeber, Tes-disóra darauf bestand. »Es ist jetzt an der Zeit, einmal ein ernsthaftes Rennen zu erleben, Su-kuru. Du mußt es unbedingt sehen. Das Ra-rajípuri, das Rennen zwischen den besten Läufern unseres Dorfes und denen von Guacho-chi.«
Ich fragte: »Wo sind sie? Ich habe keine Fremden kommen sehen.«
»Noch nicht. Sie werden eintreffen, wenn wir losgelaufen sind. Und sie werden gleichfalls laufen, Guacho-chi liegt weit im Südosten von hier.«
Er erklärte mir in den Rarámuri-Worten die Entfernung, doch ich habe sie vergessen. Gleichwohl erinnere ich mich, daß die Strecke ungefähr mehr als fünfzehn Mal Ein Langer Lauf lang sein oder fünfzehn von euren spanischen Leguas entsprechen mußte. Dabei meinte er nur die Luftlinie; in Wirklichkeit mußte dieses Rennen in dem zerklüfteten Land zwischen Schluchten und Bergen einen sehr gewundenen Verlauf nehmen. Nach meiner Rechnung muß die Entfernung, die tatsächlich zurückgelegt werden mußte, näher bei fünfzigmal Ein Langer Lauf gelegen haben. Trotzdem sagte Tes-disóra ganz beiläufig:
»Um von einem Dorf zum anderen und zurück zu laufen und dabei die hölzerne Kugel vor sich herzutreiben, braucht ein guter Läufer einen Tag und eine Nacht.«
»Unmöglich!« rief ich aus. »Hundertmal Ein Langer Lauf? Das würde ja bedeuten, daß ein Mann die Strecke von der Stadt Tenochtítlan bis zu dem ferngelegenen Purémpe-Dorf Kerétaro in derselben Zeit schaffen müßte.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Und die Hälfte davon auch noch bei Nacht? Und dabei die Kugel vor sich hertreiben? Unmöglich!«
Selbstverständlich hatte Tes-disóra keine Ahnung von Tenochtítlan oder Kerétaro oder wie weit sie auseinander lagen. Infolgedessen zuckte er nur mit den Achseln und sagte: »Wenn du es für unmöglich hältst, Su-kuru, mußt du mitkommen und es dir ansehen.«
»Ich? Ich weiß, daß ich es nie schaffen könnte.«
»Dann kommst du eben nur eine Teilstrecke mit und wartest, um uns beim Rücklauf nach Hause zu begleiten. Ich habe ein paar kräftige Eberhautsandalen, die du anziehen kannst. Da du keiner von unseren Dorfläufern bist, mogelst du auch nicht wenn du das Ra-rajipuri-Rennen nicht barfuß läufst wie wir.«
»Mogeln?« sagte ich belustigt. »Soll das heißen, daß es bei diesem Wettlauf Regeln gibt?«
»Nicht viele«, erklärte er ernsthaft. »Unsere Läufer laufen hier am Nachmittag genau im selben Augenblick los, da Großvater Feuer« – er zeigte zur Sonne – »den oberen Rand jenes Berges dort drüben berührt. Die Leute von Guacho-chi haben eine ähnliche Möglichkeit, diesen selben Augenblick abzuschätzen, und dann laufen auch ihre Läufer los. Wir laufen in Richtung Guacho-chi, und sie laufen in Richtung Guagüeybo. Irgendwo in der Mitte des Weges treffen wir uns, rufen uns Grüße zu, werfen uns gutmütig Spott und Beleidigungen an den Kopf. Sobald die Männer von Guacho-chi hier eintreffen, bieten unsere Frauen ihnen Erfrischungen an und versuchen, sie mit allen möglichen Listen zurückzuhalten – was ihre Frauen daheim genauso mit uns versuchen –, aber du kannst sicher sein, daß wir nicht darauf eingehen. Wir machen augenblicklich kehrt und laufen weiter, bis wir wieder in unseren eigenen Dörfern sind. Inzwischen wird Großvater Feuer abermals diesen Berg berühren oder hinter ihm versinken oder auch noch ein kleines Stück darüber stehen, und danach können wir bestimmen, wie lange wir gebraucht haben. Die Männer von Guacho-chi tun das gleiche, dann schicken wir uns gegenseitig Boten, um die Ergebnisse auszutauschen, und so wissen wir dann, wer das Rennen gewonnen hat.«
Ich sagte: »Wo soviel Zeit und Mühe darauf gewendet wird, hoffe ich, ist jedenfalls der Preis etwas, was sich lohnt.«
»Preis? Es gibt keinen Preis.«
»Was? Das alles tut ihr und erhaltet nicht einmal eine Trophäe dafür? Nicht einmal einen Zielpfosten habt ihr, an den man die Hand legt und den man behält? Ohne Ziel und Zweck, nur um abgekämpft in eure Häuser und zu euren Frauen zurückzukehren? In drei Götter Namen, wozu?«
Abermals zuckte er mit den Achseln. »Wir tun das, weil es das ist, was wir am besten können.«
Ich sagte nichts mehr, denn ich wußte, daß es sinnlos ist, mit unvernünftigen Menschen vernünftig reden zu wollen. Später dachte ich jedoch eingehender über das nach, was Tes-disóra mir bei dieser Gelegenheit geantwortet hatte, und vielleicht war seine
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