Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
Vom Netzwerk:
entenschnäbeliger Kopf – das Zeichen für Wind –, zwei umeinander gewundene Ranken – Rauch –, die sich über einer federngesäumten Scheibe empor ringelten – Yei-Ehécatl Pocuía-Chimàli: Drei Wind Rauchender Schild.
    Es kamen Symbole vor, die sich häufiger wiederholten, und hinter deren Sinn zu kommen, war nicht weiter schwierig. Schließlich kannten wir nur zwanzig Tagesnamen. Was mich jedoch überraschte, war die nicht sogleich ins Auge fallende Wiederholung von Elementen in Chimális und meinem eigenen Namen. Eine Seite ziemlich hinten, die also erst vor kurzer Zeit gemacht worden sein konnte, wies sechs Punkte auf, dann eine Form, die aussah wie eine auf dem Kopf stehende Kaulquappe, dann das entenschnäbelige Symbol und noch etwas mit drei Blütenblättern. Ich konnte es lesen! Ich wußte, wessen Seite es war: die von Sechs Regen Wind Blume, Tlatlis kleiner Schwester, die erst die Woche zuvor ihren Namensgebungstag gefeiert hatte.
    Nunmehr irgendwie weniger zögerlich, blätterte ich in den steifen gefalteten Blättern hin und her, betrachtete die Bilderreihen auf beiden Seiten der Falten und suchte nach weiteren Wiederholungen und erkennbaren Symbolen, die sich miteinander in Verbindung bringen ließen. Der Tecútli und mein Vater kehrten kurz nachdem ich wieder einen Namen entziffert hatte oder glaubte, es getan zu haben, in die Kanzlei zurück. Mit einer Mischung aus Schüchternheit und Stolz sagte ich:
    »Verzeiht, Herr Rot Reiher. Würdet Ihr die Güte haben, mir zu sagen, ob ich recht habe – daß auf dieser Seite der Name von jemand steht, der Zwei Rohr Gelber Eckzahn heißt?«
    Er sah mich an und sagte, nein, so heiße es nicht. Er muß mir meine Enttäuschung angesehen haben, denn geduldig erklärte er mir:
    »Es steht Zwei Rohr Gelbes Licht da, der Name einer Wäscherin hier im Palast. Zwei Rohr erklärt sich von selbst. Und Gelb – Coztic – läßt sich leicht dadurch andeuten, daß man einfach diese Farbe verwendet, wie du ganz richtig erraten hast. Aber Tlanixtélotl – ›Licht‹ oder besser: ›Element des Auges‹ –, wie soll man etwas so Ungreifbares wiedergeben? Deshalb habe ich statt dessen das Bild für Zahn – Tlanti – hingesetzt, welches zwar nicht die Bedeutung, dafür aber den Klang von tlan am Anfang des Wortes wiedergibt und dann das Bild eines Auges – Ixtelólotl –, welches dann Klarheit in das Ganze bringt. Verstehst du es jetzt? Tlanixtélotl. Licht.«
    Ich nickte und kam mir ziemlich dumm vor. Es ging bei der Bilderschrift offenbar doch um mehr als nur darum, das Zeichen für Zahn zu erkennen. Wenn mir das bis jetzt noch nicht klargeworden war – der Tecútli machte es mir ganz deutlich:
    »Schreiben und Lesen ist für solche, die in diesen Künsten ausgebildet und geübt sind, Sohn des Tepetzálan.« Damit klopfte er mir wie von Mann zu Mann auf die Schulter. »Da muß man viel lernen und es gehört viel Übung dazu; nur der Adel hat die Muße, sich mit solchen Dingen zu befassen. Aber ich bewundere deinen Scharfsinn. Welchen Beruf du auch einmal ergreifen wirst, junger Mann, ich meine, du wirst es weit darin bringen.«
    Der Tecútli hatte mir einen wichtigen Fingerzeig gegeben, und zwar einen, den ich nicht einfach in den Wind schlagen konnte. Er hatte mir klargemacht, daß die Zeichen unserer Bilderschrift nicht immer nur das bedeuteten, was sie darstellten, sondern auch das, was in ihnen anklang, wenn man es aussprach. Nicht mehr und nicht weniger. Freilich war das aufschlußreich und quälend genug, so daß ich weiterhin nach allem Ausschau hielt, was irgendwo geschrieben stand – an Tempelmauern, in der Liste der Tributverpflichtungen, die im Palast auslag, auf jedem Fetzen Papier, den ein durchreisender Händler mit sich führte – und tat mein bestes und bemühte mich ernsthaft, sie zu entziffern, wiewohl ich jeder Anleitung dazu entbehren mußte.
    Ich suchte sogar den alten Tonalpoqui auf, der mir vor vier Jahren meinen Namen ausgesucht hatte, und fragte ihn, ob ich mir nicht sein ehrwürdiges Namensbuch ansehen dürfe, wenn er es gerade nicht brauche. Er hätte nicht heftiger zurückzucken können, wenn ich ihn gebeten haben würde, ob ich nicht eine seiner Enkelinnen als Kebsweib benutzen dürfe, wenn sie sonst gerade nichts zu tun hätte. Er wies mich mit dem Hinweis zurück, die Kunst des Tonàlmatl-Kennens sei den Abkommen der Tonalpóque vorbehalten, nicht aber hergelaufenen und eingebildeten Gassenjungen. Möglich, daß dem so war. Ich

Weitere Kostenlose Bücher