Der Azteke
jeden Fall steht es für Ehécatl. Und dieses Symbol hier – all die geschlossenen Augenlider – bedeutet Yoáli. Yoáli Ehécatl, Nacht Wind.«
»Du kannst wirklich lesen?«
»Ein wenig, Yanquicatzin. Nicht viel.«
»Wer hat es dich gelehrt?«
»Niemand, Herr. Es gibt auf Xaltócan niemanden, der diese Kunst lehrte. Das ist sehr schade, denn ich würde so gern mehr lernen.«
»Dann mußt du anderswohin gehen.«
»Ja, das werde ich wohl, Herr Fremder. Mixpantzinco.«
»Ximopanolti.«
Einmal drehte ich mich noch um, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen, doch er befand sich bereits außerhalb meines begrenzten Gesichtskreises, oder die Dunkelheit hatte ihn verschluckt, oder er war einfach aufgestanden und fortgegangen.
Daheim wurde ich vom Chor meines Vaters, meiner Mutter und meiner Schwester begrüßt, der eine Mischung war aus Sorge, Erleichterung, Verblüffung und Zorn darüber, daß ich solange allein draußen im gefährlichen Dunkel geblieben war. Doch selbst meine Mutter verstummte, nachdem ich berichtet hatte, daß ich von dem neugierigen Fremden aufgehalten worden war. Sie sagte kein Wort mehr, und sie und meine Schwester blickten meinen Vater mit geweiteten Augen an. Mein Vater wiederum sah mich mit geweiteten Augen an.
»Du bist ihm begegnet«, sagte er mit belegter Stimme. »Du bist dem Gott begegnet, und er hat dich ziehen lassen. Der Gott Nacht Wind.«
Eine ganze schlaflose Nacht hindurch versuchte ich – ohne großen Erfolg –, in dem staubbedeckten, müden und mürrischen Wanderer einen Gott zu sehen. War es jedoch wirklich Nacht Wind gewesen, dann würde mir, so wollte es die Überlieferung, die Erfüllung meines größten Herzenswunsches zuteil werden. Das jedoch war eine vertrackte Sache. Wenn der Wunsch, Lesen und Schreiben zu lernen, nichts galt, wußte ich nicht, welch größten Herzenswunsch ich hatte. Oder wußte es nicht, bis es mir zuteil wurde, falls es das ist, was mir zuteil wurde.
Es geschah an einem Tag, da ich im Steinbruch meines Vaters meine erste Aufgabe als Lehrjunge zu erfüllen hatte; ich war zum Wächter der großen Grube ernannt worden für die Zeit, da alle Arbeiter Werkzeug und Gerät fallen ließen und nach Hause gingen, um dort zu Mittag zu essen. Nicht, daß große Gefahr vor Dieben bestanden hätte; nur, wenn man die Werkzeuge unbewacht herumliegen ließ, kamen kleine wilde Tiere und nagten des Salzes wegen, das durch den Schweiß der Arbeiter vom Holz aufgesaugt worden war, an Griffen und Heften der Arbeitsgeräte.
Wie jeden Tag kam Tzitzitlíni um die Mittagsstunde von daheim hergelaufen und brachte mir mein Essen. Sie schüttelte die Sandalen ab und setzte sich zu mir auf den grasbewachsenen und sonnenbeschienenen Rand des Steinbruchs, plapperte fröhlich, während ich meine Portion Weißfischfladen verzehrte – Weißfische aus unserem See, die nur kleine Gräten aufwiesen und von denen ein jeder zusammengerollt und in einer Tortilla gebacken worden war. Sie waren in ein Tuch eingeschlagen und noch ganz heiß vom Herd. Meine Schwester machte, wie mir auffiel, gleichfalls einen leicht erhitzten Eindruck; dabei war es an diesem Tag recht kühl. Ihr Gesicht war gerötet, und sie hob die Bluse von den Brüsten und fächelte sich immer wieder Luft in den quadratisch geschnittenen Ausschnitt, um sich Kühlung zu verschaffen.
Die Fischfladen hatten einen ungewöhnlichen, leicht bitteren Geschmack. Ich sann darüber nach, ob wohl Tzitzi sie gebacken habe und nicht meine Mutter und ob sie wohl deshalb so munter daherschwatzte, weil sie mich davon abhalten wollte, sie ihrer mangelnden Kochkünste wegen aufzuziehen. Unangenehm war der Geschmack jedoch nicht; außerdem war ich hungrig, und so fühlte ich mich hinterher wohlig gesättigt. Tzitzi meinte, ich solle mich hinlegen und die Mahlzeit bequem verdauen; sie werde statt meiner aufpassen, daß sich keine kleinen Stachelschweine näherten.
Ich legte mich auf den Rücken und schaute hinauf zu den Wolken, die ich früher so klar und deutlich vor dem Himmelsblau hatte erkennen können; jetzt waren es nichts weiter als formlose weiße Flecken unter formlosen blauen Flecken. Daran hatte ich mich längst gewöhnt. Unversehens geschah jedoch etwas weit Beunruhigenderes mit meinem Augenlicht. Das Weiß und das Blau begannen zu wirbeln, langsam erst, dann immer schneller, als ob ein Gott dort oben den Himmel mit einem Schokoladenbesen umrührte. Verwundert wollte ich mich schon aufsetzen, fühlte mich aber
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