Der Azteke
immer mehr bedrängende Dämmer sein Vordringen plötzlich zu verlangsamen und auf Armeslänge von mir entfernt innezuhalten. In Wirklichkeit tat es das zwar nicht, doch war nach diesen Anfangsjahren sein weiteres Fortschreiten weniger merkbar. Heute kann ich ohne Hilfsmittel das Gesicht meiner Frau nur dann erkennen, wenn es eine Handspanne von mir entfernt ist. Aber heute, wo ich alt bin, ficht mich das nicht mehr an, doch damals, in meiner Jugend, war es schon sehr wichtig.
Gleichwohl – nach und nach schickte ich mich drein und paßte mich an meine Begrenzungen an. Jener sonderbare Mann in Tenochtítlan hatte recht gehabt, als er mir vorhergesagt hatte, mein Tonáli sei es, einfache, in der Nähe liegende Dinge zu sehen. Aus reiner Notwendigkeit heraus bewegte ich mich nicht mehr so ungebärdig, sondern wurde bedächtig in meinen Bewegungen, saß oft still da und untersuchte alles sehr genau, statt flüchtig mit dem Auge darüber hinzugehen wie früher. Wo andere eilten, faßte ich mich in Geduld. Wenn andere davon stürzten, schritt ich mit Bedacht aus. Ich lernte zu unterscheiden zwischen ziel- und zweckgerichteter Bewegung und bloßem Sichbewegen, zwischen zielbewußtem Vorgehen und bloßem Tun. Wo andere in ihrer Ungeduld ein Dorf sahen, sah ich dessen Bewohner. Wo andere Menschen sahen, sah ich einzelne Persönlichkeiten. Wo andere einen Fremden wahrnahmen, nickend grüßten und weitereilten, bemühte ich mich, den Betreffenden genau zu erkennen, und pflegte dann später jede Linie seiner Gestalt zu zeichnen, so daß selbst ein Könner und Künstler wie Chimàli ausrief: »Aber Maulwurf, du hast den Mann ja genau getroffen, er sieht ganz lebensecht aus.«
Ich fing an, Dinge zu bemerken, die, wie ich meine, die meisten Menschen nicht sehen, so gut ihre Augen auch immer sein mögen. Habt ihr, meine Herren Schreiber, jemals bemerkt, daß der Mais nachts schneller wächst als bei Tage? Ist euch jemals aufgefallen, daß jeder Maiskolben eine gerade Anzahl von Körnerreihen aufweist? Oder zumindest fast jeder? Einen mit einer ungeraden Anzahl von Körnerreihen zu entdecken, ist schwieriger, als ein vierblättriges Kleeblatt zu finden. Habt ihr jemals festgestellt, daß keine zwei Finger – auch nicht eure eigenen – sich jemals ganz genau gleichen, in der gesamten Menschheit nicht, falls meine eigenen Beobachtungen euch dafür Beweis genug sind? – niemals genau dasselbe Linienmuster aus Wirbeln und Bögen aufweisen, wie sie an Finger- und Daumenspitze eingegraben sind? Falls ihr mir nicht glaubt, vergleicht eure eigenen. Oder vergleicht sie untereinander. Ich warte.
Oh, ich weiß, daß es keinerlei Bedeutung hatte und mir keinerlei Vorteile brachte, wenn mir derlei Dinge auffielen. Es handelte sich nur um belanglose Einzelheiten, an denen ich meine neue Neigung ausprobierte, Dinge genau und eingehend zu betrachten. Aber diese Tugend, die ich aus meiner Not machte, im Verein mit meiner Fähigkeit, genau zu zeichnen, was ich sah, führte mich schließlich dazu, mich für die Bilderschrift unseres Volkes zu interessieren. Es gab zwar keine Schule in Xaltócan, in der in einem so abstrusen Fache unterrichtet wurde, aber ich nahm mir jedes bißchen Geschriebene vor, dessen ich habhaft werden konnte, vertiefte mich hinein und kämpfte damit herauszulesen, was es bedeutete.
Die Bedeutung der Zahlenzeichen, glaube ich, hätte wohl ein jeder leicht herausgefunden. So etwa, daß das Muschelzeichen für Null stand, oder ein Punkt oder ein Finger für Einser, die Flaggen für Zwanziger oder die kleinen Bäume für Hunderter. Aber ich erinnere mich, welch wohliger Schauder mich überlief, als ich zum erstenmal die Bedeutung eines Bilderwortes ergründete.
Eines Tages nahm mein Vater mich mit, als er aus beruflichen Gründen unseren Tecútli aufsuchen mußte. Damit ich etwas zu tun hatte, während sie sich in einem anderen Zimmer unter vier Augen unterhielten, gestattete der Tecútli mir, mich in seine Kanzlei zu setzen und die Liste aller seiner Untertanen durchzusehen. Zuerst wandte ich mich jener Seite zu, die für mich selber reserviert war. Sieben Punkte, Blumenzeichen, graue Wolke. Dann arbeitete ich mich mit der allergrößten Behutsamkeit durch die anderen Seiten hindurch. Manche Namen waren genauso leicht zu entziffern wie mein eigener, einfach deshalb, weil ich sie kannte. Nicht weit von meiner Seite entfernt stieß ich auf die von Chimáli, dessen Namen ich selbstverständlich sofort erkannte: drei Finger,
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