Der Azteke
bodenlosen Schlamm. Die Taucher stocherten mit langen Stangen in der Tiefe herum, haben ihn jedoch nie gefunden. Der Stein – wie immer er ausgesehen haben mag – muß mit der Kante nach unten hinuntergesackt sein.«
»Wie immer er ausgesehen haben mag?« wiederholte mein Vater echogleich seine Worte.
»Niemand außer dem Künstler selbst hat ihn jemals zu sehen bekommen. Vielleicht ist er sogar noch prächtiger gewesen als dieser hier« – der alte Mann zeigte auf den Sonnenstein –, »aber das werden wir nie erfahren.«
»Wird der Künstler es uns denn nicht sagen?«
»Er hat es nie getan.«
Ich ließ nicht locker. »Nun, könnte er ihn nicht ein zweitesmal meißeln?« Eine Aufgabe, zu der man zwanzig Jahre benötigt, wollte mir damals längst nicht so schwierig erscheinen, wie es das heute tut.
»Vielleicht könnte er das, aber er wird es nie tun. Er faßte das Unglück als einen Wink seines Tonáli auf, als ein Zeichen dafür, daß die Götter seine Opfergabe verschmäht hätten. Er war es, dem der Verehrte Sprecher vorhin höchstselbst die Ehre des Blumentodes erwiesen hat. Der zurückgewiesene Künstler hat sich als erstes Opfer für den Sonnenstein hingegeben.«
»Dem Werk seines Bruders«, murmelte mein Vater. »Aber, was ist mit dem Bruder?«
»Er wird mit Ehren und reichen Geschenken überhäuft werden und wird fortan seinem Namen das - tzin anfügen dürfen«, sagte unser Führer. »Aber alle Welt wird sich für alle Ewigkeit genauso wie er fragen, ob nicht ungesehen in der Tiefe des Texcóco-Sees ein womöglich noch erhabeneres Kunstwerk liegt als der Sonnenstein selbst.«
Mein Vater und ich fuhren noch in dieser Nacht wieder nach Hause zurück, denn unsere zu einem mächtigen Floß zusammengetäuten Acális waren randvoll mit Gütern beladen worden, die der Frachtmeister uns hatte verschaffen können. Ihr habt von den bedeutenderen und erinnerungswürdigsten Ereignissen dieses Tages gehört – dieser Feier meines siebten Geburtstages, der zugleich auch mein Namensgebungstag war. Ich glaube, es war der schönste Geburtstag, den ich erlebt habe, und ich habe deren mehr erlebt, als mir eigentlich zustehen.
Ich bin froh, daß ich Tenochtítlan damals erlebt habe, denn so sollte ich es nie wiedersehen. Ich meine das nicht nur, weil die Stadt wuchs und sich veränderte, oder weil ich von anderen Erlebnissen erfüllt und nicht mehr ganz so zu beeindrucken war, als ich dorthin zurückkehrte. Ich meine das ganz buchstäblich: ich habe nie wieder irgend etwas mit meinen eigenen beiden Augen so klar gesehen wie damals.
Zu Anfang habe ich davon gesprochen, daß ich imstande war, das gemeißelte Kaninchen im Mond zu erkennen und Nach Blume im Zwielicht des abendlichen Himmels und die Einzelheiten der Wappenzeichen auf den Federbannern Tenochtítlans und die verschlungenen und verwirrenden Einzelheiten auf dem Sonnenstein. Fünf Jahre nach diesem meinem siebenten Geburtstag hätte ich Nach Blume auch dann nicht mehr erkennen können, wenn irgendein Himmelsgott eine Richtschnur vom Stern bis zu meinem Auge gezogen haben würde. Metztli, der bis zum Bersten gesättigte und in voller Leuchtkraft scheinende Mond wurde für mich zu einem form- und gesichtslosen, verschwommenen hellen Fleck, und seine einst scharf gezogenen Umrisse gingen unterschiedslos in den Himmel über.
Kurz gesagt, von meinem achten Lebensjahr an verlor ich die Schärfe meines Augenlichts. Ich wurde damit zu etwas Besonderem, aber nicht in einem beneidenswerten Sinne. Bis auf die wenigen Blindgeborenen oder diejenigen, die durch eine Verwundung oder Krankheit erblinden, erfreuen sich fast alle unsere Leute eines Augenlichts, welches dem des Adlers und Geiers in nichts nachsteht. Mein sich ständig verschlechterndes Sehvermögen war etwas bei uns praktisch Unbekanntes, und ich schämte mich deswegen, sprach nicht davon und bemühte mich, es als schmerzliches Geheimnis für mich zu behalten. Wenn jemand den Finger ausstreckte und sagte: »Sieh mal da!« pflegte ich auszurufen: »Ah, ja!«, wiewohl ich nicht wußte, ob ich nun die Augen aufreißen oder den Blick abwenden sollte.
Die Undeutlichkeit des Gesichts kam nicht plötzlich und auf einmal über mich, sondern nach und nach, allerdings unerbittlich. Als ich neun oder zehn war, konnte ich genausogut sehen wie alle anderen auch, freilich nur auf eine Entfernung von vielleicht zwei Armeslängen. Hinter diesen zwei Armeslängen fing alles an zu verschwimmen, als ob ich es durch eine
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