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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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zwar durchsichtige, aber verzerrende Schicht Wasser hindurch erblickte. Bei größerer Entfernung – so etwa, wenn man von einem Hügel aus über die Landschaft hinwegblickt – verschwammen die Umrisse der Dinge in solchem Maße, daß sie sich vermischten und miteinander verschmolzen, und so war eine Landschaft für mich nichts weiter als eine eigenwillig gemusterte Decke aus form- und gestaltlosen Farbflecken. Damals, in jenen Jahren, konnte ich mich jedoch immerhin mit klarer Sicht auf zwei Armeslängen bewegen und umhergehen, ohne über Dinge zu fallen. Wenn man mir auftrug, irgend etwas aus einem der Räume unseres Hauses zu holen, konnte ich das tun, ohne wie blind danach zu tappen.
    Freilich, mein Sehfeld begann sich immer mehr einzuengen, und als ich dreizehn Jahre alt wurde, konnte ich nur noch auf eine Armeslänge klar etwas erkennen. Damals konnte ich auch nicht mehr so tun als ob, ohne daß man mir etwas angemerkt hätte. Eine Zeitlang haben meine Eltern und Freunde mich wohl nur für tolpatschig, unachtsam und vielleicht ein wenig beschränkt gehalten. Mit dem verbohrten Stolz der Jugend wäre es mir lieber gewesen, als Tolpatsch zu gelten denn als Krüppel. Nur wurde nach und nach unweigerlich jedermann klar, daß es mir an einem der wichtigsten unserer fünf Sinne gebrach. Meine Eltern, meine Schwester und Freunde reagierten höchst unterschiedlich auf die Tatsache, daß plötzlich einer unter ihnen lebte, der anders war als sie.
    Meine Mutter gab der Familie meines Vaters die Schuld. Offenbar hatte es da einmal einen Onkel gegeben, der im Octli-Rausch nach irgendeinem Krug mit einer ähnlich weißen Flüssigkeit darin gegriffen und den Inhalt hinuntergestürzt hatte, ehe er merkte, daß es sich um Xocoyatl, sehr starken Ätzkalk handelte, der zur Reinigung und zum Bleichen von arg verschmutztem Kalkstein diente. Dieser Onkel überlebte das zwar, rührte jedoch fortan nie wieder einen Krug Octli an, war für den Rest seines Lebens mit Blindheit geschlagen und hatte – so der Gedanke meiner Mutter – dieses beklagenswerte Erbe an mich weitergegeben.
    Mein Vater gab niemandem die Schuld und suchte auch nicht nach irgendwelchen weit hergeholten Erklärungen, sondern versuchte vielmehr, mich zu trösten: »Ach, ein Meistersteinhauer muß die Dinge ganz von nahem betrachten, Mixtli. Du wirst keinerlei Schwierigkeiten haben, die Spalten und die haarfeinen Risse im Gestein zu finden.«
    Meine Altersgenossen – und Kinder stechen instinktiv und mitleidslos zu wie die Skorpione – pflegten immer wieder laut auszurufen: »Sieh dort!« Dann strengte ich mich an, kniff die Augen zusammen und sagte: »Oh, ja.«
    »Dort ist doch wirklich etwas zu sehen, oder?«
    Verzweifelt kniff ich die Augen noch mehr zusammen: »Ja, das ist es wahrhaftig.«
    Woraufhin sie dann in Lachen ausbrachen und prustend und höhnisch riefen: »Überhaupt nichts ist dort zu sehen, Tozáni.«
    Anderen wie etwa meinen beiden besten Freunden Chimàli und Tlatli rutschte zwar auch gelegentlich ein »Sieh mal, dort!« heraus, sie fügten dann jedoch eilends etwa hinzu: »Ein Schnellbote kommt auf den Palast des Herrn Rot Reiher zugelaufen. Er trägt den grünen Umhang der guten Nachrichten. Irgendwo muß eine siegreiche Schlacht geschlagen worden sein.«
    Meine Schwester Tzitzitlíni sagte zwar kaum etwas, verstand es jedoch immer so einzurichten, daß sie mich begleitete, wenn ich weiter fort oder irgendwohin mußte, wo ich mich nicht auskannte. Sie nahm mich dann wohl bei der Hand, als wäre das nichts weiter als die liebevolle Geste einer älteren Schwester, und führte mich, ohne daß man es merkte, um Dinge herum, die im Wege standen und die ich nicht ohne weiteres erkennen konnte.
    Doch der anderen Kinder waren so viele, und sie nannten mich so hartnäckig Tozáni, daß ihre Eltern mich bald gleichfalls so nannten – gedankenlos, aber keineswegs aus Unfreundlichkeit heraus –, und so nannte mich schließlich bis auf meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester dann jeder. Selbst als ich mich an meine Behinderung gewöhnt hatte und es schaffte, nicht mehr so ungeschickt zu sein, also anderen Menschen kaum noch Grund gab, meine Kurzsichtigkeit zu bemerken, blieb mir der Spitzname immer noch. Ich selber fand, daß der Name Mixtli, den ich erhalten hatte und der soviel wie Wolke bedeutete, ironischerweise jetzt besser zu mir passe als zuvor; aber für alle Welt sonst hieß ich nun einmal Tozáni, Maulwurf.
    Dann jedoch schien das mich

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