Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
hatte sie für den »Nouvel Observateur« aus Vietnam berichtet, in Bolivien die Spuren der tödlichen Jagd auf Che Guevara verfolgt und im Mittleren Osten über die El Fatah geschrieben. Auch »konkret« hatte eine Titelgeschichte von ihr gedruckt: eine Reportage aus einem nahöstlichen Camp für palästinensische Waisenkinder, die zu Kämpfern ausgebildet wurden.
Am 4 . Juni um 11 . 00 Uhr morgens traf Michèle Ray auf dem Berliner Flughafen Tempelhof ein. Ein Kontaktmann mit dem Decknamen »Lothar« erwartete sie. Erkennungszeichen war ein roter Lenin-Band, den »Lothar« in der Hand hielt. Ein und eine Viertelstunde wurde die Journalistin mit U-Bahn, Taxi, U-Bahn und wieder Taxi durch die Stadt gefahren. Dann mußte sie bis kurz nach Mittag in einem Appartement warten. Schließlich kam ein Anruf, und sie wurde wieder mit U-Bahn und Taxi quer durch die Stadt geschafft. Im oberen Stockwerk eines Mietshauses traf sie Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Alle drei hatten sich so verkleidet, daß sie kaum noch Ähnlichkeit mit ihren überall aushängenden Fahndungsfotos hatten. Ulrike Meinhof trug eine Perücke mit langen blonden Haaren und ein Minikleid. Horst Mahler, der ebenfalls dazukam, hatte sich eine Perücke aufs schüttere Haupthaar gesetzt und sich Koteletten wachsen lassen. Auch der Anwalt wurde inzwischen gesucht; nicht offiziell, denn für die Baader-Befreiung hatte er ein Alibi: Er hatte vor Gericht verteidigt. Dennoch wurde verdeckt nach ihm gefahndet.
Die Französin trank mit den Gesuchten Tee und aß frische Erdbeeren. Danach wurde Michèle Ray von »Lothar« wieder zurück in das erste Zwischenquartier geführt. Am Abend erschien Horst Mahler und brachte ihr ein von Ulrike Meinhof besprochenes Tonband. Am Morgen darauf, es war Freitag, der 5 . Juni, traf man sich noch einmal zum Frühstück, und Michèle Ray erfuhr, was die Gruppe als nächstes zu tun gedachte: Berlin zu verlassen und zu den palästinensischen Fedayin zu gehen.
Michèle Ray übergab das Tonband dem »Spiegel«, der es in Auszügen abdruckte.
Ulrike Meinhofs Antwort auf die Frage, warum Baader befreit worden sei: »Man kann sagen aus drei Gründen: Erst mal natürlich deswegen, weil Andreas Baader ein Kader ist. Und weil wir bei denjenigen, die jetzt kapiert haben, was zu machen ist und was richtig ist, nicht davon ausgehen können – auf irgendeine luxuriöse Art und Weise –, daß einzelne dabei entbehrlich sind.
Das zweite ist, daß wir als erste Aktion eine Gefangenenbefreiung gemacht haben, weil wir glauben, daß diejenigen, denen wir klarmachen wollen, worum es politisch heute geht, welche sind, die bei einer Gefangenenbefreiung überhaupt keine Probleme haben, sich mit dieser Sache selbst zu identifizieren …
Das dritte ist, wenn wir mit einer Gefangenenbefreiung anfangen, dann auch deswegen, um wirklich klarzumachen, daß wir es ernst meinen.«
Dann kam Ulrike Meinhof auf die Polizei zu sprechen: »Wenn man es hier mit den Bullen zu tun hat, wird argumentiert, die sind ihrer Funktion nach natürlich brutal, ihrer Funktion nach müssen sie prügeln und schießen, und ihrer Funktion nach müssen sie Unterdrückung betreiben, aber das ist ja auch nur die Uniform, und es ist nur die Funktion, und der Mann, der sie trägt, ist vielleicht zu Hause ein ganz angenehmer Zeitgenosse …
Das ist ein Problem, und wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.«
Das Tonband mit Ulrike Meinhofs berühmt gewordener Erklärung ist nicht mehr auffindbar. Aber ein zweites Band mit ihrer Stimme fand sich Jahre später im »Spiegel«-Archiv wieder. Darauf liest sie einen offenbar vorformulierten Text vor: »Den bewaffneten Kampf organisieren, die Klassenkämpfe entfalten, die Rote Armee aufbauen. Die Frage, ob es richtig ist, bewaffnete, das heißt illegale Widerstandsgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin zu organisieren, ist die Frage, ob es möglich ist. Die Antwort darauf kann nur praktisch ermittelt werden, alles andere sind Spekulationen. Einige Genossen haben sich zu dieser Praxis entschlossen. Daran wird sich zeigen, ob genug Leute, ob genug psychische und physische Energie, genug Schlauheit, genug Disziplin, genug Unzufriedenheit und genug
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