Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Generation. Jetzt sind die anderen weg, und wir müssen weitermachen.«
Sie waren nicht unkritisch in ihrer Beurteilung der vergangenen Monate des »bewaffneten Kampfes«: alles zu spontan, zu schlecht geplant. Boock und seine neuen Mitstreiter wollten es besser machen, professioneller. Sie stellten Listen auf, was man für den Untergrundkampf brauchte: Personalpapiere, konspirative Wohnungen, Fahrzeuge und vor allem Geld. Sie mußten lernen, lernen, lernen.
Sie gingen auf Reisen, besuchten alte Freunde, um sie zu rekrutieren, Leute, zu denen persönliche Beziehungen bestanden, die man unauffällig nach ihrem Verhältnis zum bewaffneten Kampf befragen konnte. Vorsicht und Unauffälligkeit waren die wichtigsten Gebote. Keine spektakulären Sportwagen, wie Baader sie für sich requiriert hatte, keine langen Haare wie die Angehörigen der Anarcho- und Drogenszene. Nein, wie junge Manager wollten sie aussehen, und das waren sie ja auch. Denn sie hatten nur ein Ziel: die Gefangenen zu befreien.
48. Verhaftung in der Modeboutique
Nach der Festnahme der drei in Frankfurt war Gudrun Ensslin nach Hamburg gefahren. Dort traf sie Ulrike Meinhof, Klaus Jünschke und Gerhard Müller. Sie hatten im Fernsehen die Bilder der Festnahme gesehen. Seit dem Bombenanschlag auf das Hamburger Springer-Haus war Ulrike Meinhof tief deprimiert. Bekannte von früher, die ihr immer noch verbunden waren, hatten gesagt: »Um Gottes willen, hört doch jetzt endlich auf.« Und sie hatte geantwortet: »Jetzt geht es erst richtig los.« Aber so recht überzeugt schien sie nicht mehr zu sein. »Es war wie eine Talfahrt«, erinnerte sich Klaus Jünschke. »Wenn du rausspringst, gehst du kaputt, wenn du weiterfährst, gehst du auch kaputt.«
Angst und Nervosität nahmen zu. Gudrun Ensslin fuhr nun nicht, wie gewohnt, mit Andreas Baader, sondern mit Klaus Jünschke. Er schaltete, die Gänge knarrten, er fuhr unsicher. Gudrun Ensslin geriet in Panik. Sie stieg mit ihm in ein Taxi um. Der Fahrer blickte sie an. Sie fühlte sich erkannt und flüsterte: »Jetzt muß ich mir sofort andere Klamotten besorgen.« In der Nähe war eine Boutique.
An diesem 7 . Juni 1972 , genau eine Woche nach der Verhaftung von Andreas Baader, stand die Geschäftsführerin der Boutique »Linette« am Hamburger Jungfernstieg neben der Kasse, als eine junge Frau das Geschäft betrat. Sie trug einen roten Pullover, halblange krause Haare und war sehr mager. Die Boutique-Chefin betrachtete die Frau genau, die den Blick mit einem Lächeln erwiderte. Sie wirkte sehr krank. Die Frau legte ihre Jacke ab und ließ sich verschiedene Pullover zeigen. Eine andere Kundin hatte im Laden zehn bis fünfzehn Hosen anprobiert und auf einer Couch verstreut. Die Geschäftsführerin wollte die Hosen wieder einpacken. Da bemerkte sie eine blaugraue Lederjacke und wollte sie ebenfalls beiseite räumen. Die Jacke schien ihr unverhältnismäßig schwer. Sie tastete die aufgesetzten Taschen ab und drehte sich zu ihren Kolleginnen um: »Also, ich glaube, hier hat jemand eine Pistole.« Ihre Kolleginnen hielten das für einen Scherz. Eine von ihnen griff ebenfalls nach der Jacke und sagte: »Ja, das stimmt.«
Die Boutique-Chefin rief bei der Polizei an.
Polizeiobermeister Reiner Freiberg war mit seinem Funkstreifenwagen gerade in der Nähe. Er bekam den Einsatzbefehl. Sein Kollege Millhahn lief voraus in die Boutique. Eine Angestellte deutete auf die Frau mit dem Lockenkopf. Gudrun Ensslin richtete den Blick nach unten und versuchte, ruhig an dem Polizeibeamten vorbeizugehen. Millhahn packte sie am Arm. In diesem Moment kam ihm Freiberg zu Hilfe. Verzweifelt wehrte Gudrun Ensslin sich und riß die beiden Beamten zu Boden. Dann wurde sie überwältigt. Freiberg nahm ihr die Handtasche ab, reichte sie einer Verkäuferin und sagte: »Öffnen Sie bitte die Tasche.« Er selbst durchsuchte Gudrun Ensslins Jacke und zog einen silberglänzenden Revolver hervor.
In der Handtasche steckte noch eine weitere Waffe, eine großkalibrige Pistole mit Reservemagazin. Als er Handschellen holen wollte, traf ein zweiter Peterwagen ein.
Auf dem Polizeipräsidium wurde Gudrun Ensslin von weiblicher Kriminalpolizei durchsucht. Dann fragten Beamte, ob sie sich freiwillig Fingerabdrücke abnehmen und fotografieren lassen würde.
»Ich sage nichts, und von mir kriegt ihr auch nichts«, antwortete sie. Daraufhin wurden ihr die Fingerabdrücke gewaltsam abgenommen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, aber die Beamten
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