Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
bogen jeden Finger einzeln gerade, drückten ihn erst auf ein Stempelkissen und dann auf ein Stück Papier. Anschließend sollte Gudrun Ensslin fotografiert werden, doch sie ließ ihren Kopf hängen und verbarg ihr Gesicht. An der Wand des Vernehmungsraumes hing ein Blumenbild. Nur aus nächster Nähe konnte man sehen, daß eine der gemalten Blumen ein Loch hatte. Dahinter, im Nebenzimmer, stand eine Kamera. Einer der Polizeibeamten gab Gudrun Ensslin eine Zigarette, sie riß den Filter ab, rauchte, hob aber nicht den Kopf. Nun kraulte und kitzelte ihr ein anderer Beamter minutenlang den Nacken. Als Gudrun Ensslin einmal kurz aufsah, wurden die Aufnahmen gemacht.
Später, im Prozeß, wurde der Beamte dazu befragt. Er antwortete: »Ich habe ihren Nacken ein klein wenig gekrault. Darüber hat man später geschmunzelt, die Kollegen. Die Haare habe ich nicht gestreichelt, ich habe nur ihren Nacken gekrault, sagt man dazu in Hamburg.«
»Könnte man das Kraulen als Kitzeln bezeichnen?« fragte Oberstaatsanwalt Zeis.
»Ja, ›Kitzeln‹ möchte ich nicht sagen, weil Kitzeln ist mehr gefühlsbetont. Ich habe als Beamter sachlich objektiv die Aufgabe gehabt, das Lichtbild zu ermöglichen. Und zu dieser Zeit mußte ich sie reizen, provozieren.«
Rechtsanwalt Heldmann als Verteidiger beanstandete, daß der Vorsitzende den Polizeibeamten nicht gemäß Paragraph 55 belehrt habe, nach dem Zeugen die Aussagen verweigern können, wenn sie sich sonst selbst belasten müßten. Das Kitzeln sei eine körperliche Behandlung, die durch ihre Wirkung die freie Willensentscheidung einer festgenommenen Person aufheben könne.
»Dürfen wir noch den Tatbestand nennen, nach dem sich das Ganze richten soll?« fragte der Vorsitzende Richter.
»Nötigung im Amt«, antwortete Rechtsanwalt Dr. Heldmann.
In der Haftanstalt Essen schrieb Gudrun Ensslin einen Kassiber für Ulrike Meinhof: » HUT -Befehl, mach die Fresse zu und bleib im Loch.«
» HUT «, das hieß: Befehl von der obersten Führung, von denen, die im RAF -Jargon »die Hüte aufhatten«.
Und weiter: »Liesel … zwei Monate, in denen ihr nichts tut als die Struktur reparieren …«
Nach einer Reihe von Verhaltensmaßregeln, welche Wohnungen abzustoßen seien, wo Geld deponiert werden solle, welche Aktionen geplant werden müßten, kam Gudrun Ensslin auf ihre Verhaftung in Hamburg: »Auf dem Weg zum Bunker Taxi … Fahrer hat im Schimmer der Gitanes gesehen und mich sowieso erkannt. Ich wie im Dschungel. Aber da war die Idee andere Klamotten. Dann in dem Laden hab’ ich nur noch Scheiße im Gehirn gehabt, erregt, verschwitzt. Sonst hätte ich ticken müssen, ich hab’ aber gepennt. Ging auch irre schnell, sonst wäre jetzt eine Verkäuferin tot (Geisel), ich und vielleicht zwei Bullen. Also echt unklar, ob ich da weggekommen wäre, und es ging so schnell, daß ich die Hand aus der Tasche mit der Knarre halb gebrochen von Bullenpfoten nur rausbekam …«
Später, nachdem dieser sogenannte Ensslin-Kassiber bei der verhafteten Ulrike Meinhof gefunden worden war, stellten die Behörden Ermittlungen an, wer den Brief aus der Haftanstalt herausgeschmuggelt haben könnte. Gudrun Ensslins Anwalt Otto Schily geriet in Verdacht und sollte deswegen von der Verteidigung ausgeschlossen werden. Die Beweislage war aber so dürftig, daß Schily das Mandat behielt.
Bei ihrer Festnahme hatte Gudrun Ensslin einen Schlüssel in der Tasche, der in das Schloß einer konspirativen Wohnung in der Seidenstraße in Stuttgart paßte.
Am 7 . August 1972 durchsuchten Polizeibeamte diese Unterkunft. Ein Kriminalkommissar des LKA Stuttgart gab zu Protokoll:
»Betr.: Fahndung nach anarchistischen Gewaltverbrechern. Hier: konspirative Wohnung in der Seidenstraße 71 .
Anlage: 22 Mickymaus-Hefte.
Die beigefügten Mickymaus-Hefte wurden in der oben angegebenen Wohnung gefunden. Es besteht der begründete Verdacht, daß die Mickymaus-Heftchen vom Bandenmitglied Andreas Baader gelesen wurden.«
Kurz nach der Festnahme ihrer Tochter wurde Gudrun Ensslins Mutter von einem Fernsehreporter interviewt: »Sie haben letzthin gesagt, besser meine Tochter wird erschossen, als wenn sie selbst jemanden erschießt. Wie kann eine Mutter diese Aussage machen?«
»Ich kam zu der Aussage durch mein eigenes Gewissen«, antwortete Ilse Ensslin. »Es war mir nicht vorstellbar, daß sie selbst eine so große Schuld auf sich lädt und damit unserer Familie und damit der Sippe, aus der sie
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