Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
vergossen. Wie der fromme Bildad nun am besinnlichen Abend seiner Tage diese Widersprüche rückschauend in Einklang brachte, weiß ich nicht; aber sie schienen ihn nicht sonderlich zu berühren, und höchstwahrscheinlich war er längst zu dem weisen und vernünftigen Schluß gekommen, daß für den Menschen die Religion eines ist und die reale Welt ein ganz anderes. Die Welt aber zahlt Dividenden.«
Bildad alias Horst Mahler: der Scheinheilige in der Gruppe?
Holger Meins erhielt den Namen des Ersten Steuermannes, »Starbuck«. Über ihn heißt es in »Moby Dick«: »Er war ein langer, ernster Mann, und obwohl an einer eisigen Küste geboren, schien er wohlgeeignet, Tropenhitze zu ertragen … Starbucks Leib und Starbucks unterjochter Wille gehörten Ahab, solange Ahab die magnetische Kraft seines Geistes auf Starbucks Hirn ausstrahlen ließ; allein ihm war bewußt, daß der Steuermann trotz allem den Kriegszug seines Kapitäns in tiefster Seele verabscheute.«
Starbuck alias Holger Meins: der von Baader Unterjochte?
Jan-Carl Raspe erhielt den Decknamen »Zimmermann«.
In »Moby Dick« baut der Zimmermann unablässig Särge für die Opfer der Jagd nach dem weißen Wal, er schnitzt dem Kapitän Ahab ein neues Bein aus Walknochen und macht sich überall nützlich: »Er glich den nicht selbst denkenden, aber höchst sinnreich erdachten und vielseitig verwendbaren Werkzeugen aus Sheffield, die, multum in parvo, wie ein – nur ein wenig angeschwollenes – gewöhnliches Taschenmesser aussehen, jedoch nicht bloß Klingen jeder Form enthalten, sondern auch Schraubenzieher, Pfropfenzieher, Pinzetten, Ahlen, Schreibgerät, Lineale, Nagelfeilen und Bohrer. Wollten seine Vorgesetzten den Zimmermann als Schraubenzieher benutzen, so brauchten sie nur diesen Teil seiner Person aufzuklappen, und die Schraube saß fest; oder sollte er Pinzette spielen, so nahmen sie ihn bei den Beinen, und die Pinzette war fertig …«
Zimmermann alias Jan-Carl Raspe: das willenlose Werkzeug?
Gerhard Müller hieß Quiqueg. Quiqueg, der Harpunier auf dem Walfangschiff, war ein »edler Wilder« aus der Südsee, der mit seiner Waffe, der Harpune, ins Bett ging. In »Moby Dick« heißt es über ihn: »So blieb er in seinem Herzen ein Götzendiener wie eh und je und lebte doch unter der Christenheit, trug ihre Kleidung und mühte sich, in ihrem Kauderwelsch mitzuplappern.«
Quiqueg alias Gerhard Müller: der Verräter?
Als Gruppe, isoliert von der Welt wie die Besatzung eines Totenschiffes, führten die RAF -Kader ein geradezu mystisches Eigenleben. So war es kein Zufall, daß Gudrun Ensslin und ihre Genossen in der Einsamkeit ihrer Zellen auf den Romanklassiker von Herman Melville stießen. Die Geschichte von der fanatischen Jagd des Kapitäns Ahab auf den weißen Wal trägt alle Züge einer revolutionären, antikapitalistischen Parabel. Schon im Vorspann seines Buches breitet der amerikanische Autor, Zeitgenosse von Karl Marx, das ganze Spektrum mythischer Verklärung des Meeresmonsters aus. Er zitiert einen Satz aus der Einleitung zu Thomas Hobbes’ »Leviathan«: »Künstlich erschaffen ist jener gewaltige Leviathan, den man Gemeinwesen oder Staat (lateinisch ›civitas‹) nennt und der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch.«
Für sie, die Gruppe, die sich Rote Armee Fraktion nannte, war die Idee der Revolution, für die sie ihr Leben und das von anderen nicht schonten, so etwas wie die Jagd auf den weißen Wal, den Leviathan, den Staat, den sie immer wieder als »die Maschine« bezeichneten.
Das mörderische Wüten Baaders und seiner Crew gegen den Leviathan Staat trug Züge eines methaphysischen Endkampfes, ähnlich jenem, den der monomanisch rasende Kapitän Ahab bei seinem Krieg gegen den Wal führt. »Ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt«, sagt Ahab in Melvilles Roman über sich selbst. Und weiter: »Wie kann der Häftling denn ins Freie, wenn er die Mauer nicht durchbricht? Für mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr.«
Parallelen zwischen Karl Marx’ »Das Kapital« und Melvilles »Moby Dick« entdeckte auch der französische Essayist und Hegel-Übersetzer Jean-Pierre Lefebre: »›Moby Dick‹, dieser doppelte Zyklop, dieses wundersame Ungetier, stets von der Tiefe verschlungen und immer wieder aufgetaucht, und ›Das Kapital‹, dieses andere zyklothyme Monster, dessen Gespenst noch immer über den Längen- und
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