Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
sie genau so lange gehungert hat, bis sie Hunger hatte. Wenn sie dazu keine Selbstkritik bringen kann, ist unsere Reaktion: sie flippt aus dem Infosystem …«
Und Ulrike Meinhof schrieb: »Astrid. Sie treibt sich rum. Ich hab ihr gesagt, daß sie aus der RAF rausflippt, wenn … Nicht als Drohung, sondern als Tatsache.«
Regelmäßig erhielten alle inhaftierten Gruppenmitglieder, über die Verteidigerpost gebündelt, Kopien fast aller Briefe, die untereinander geschrieben wurden. Darunter auch private Korrespondenz und manchmal das, was sie »Kritik und Selbstkritik« nannten.
Klaus Jünschke im August 1974 : »Ich hatte mich wie ein konterrevolutionäres Arschloch verhalten. Anstatt meine Mängel aufzudecken und die Schulung konsequent mittels Info etc. auszubauen, habe ich das Info mehr konsumiert, als es als Werkzeug, Rüstzeug für den Kampf zu gebrauchen.«
Das Rüstzeug für den Kampf wurde den Gefangenen direkt und ganz legal in die Zellen geliefert. Offenbar hatte kein Untersuchungsrichter, der für Postzensur und Kontrolle der zugesandten Bücher verantwortlich war, etwas dagegen, daß sich die Gefangenen Literatur zuschicken ließen, die sie für die Weiterbildung als Stadtguerilla brauchten.
So konnten sich die RAF -Gefangenen eine umfangreiche Bibliothek zusammenstellen, mit Handbüchern über Zündung und Verhinderung der Entschärfung von Sprengkörpern, neue Fahndungsmethoden der Polizei, neue Waffen, Alarmanlagen, Werkschutz, Minispione, polizeilichen Sperrenbau und ähnliches.
Eine kleine Auswahl der Titel: »Deutsches Waffenjournal«, »Wehrtechnik«, »Militärtechnik«, »Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift«, »Funktechnik«, »Der Funkamateur«, Militärverlag der DDR , »Was wir von den Tupamaros lernen können«, »Lehrmeister des kleinen Krieges«, »Stadtguerilla«, »Der bewaffnete Aufstand«, »Urban Guerilla Warfare«, »Guerilla im Industriestaat«, »Partisanenbuch«, »Der verdeckte Kampf«, »Kriegstheorien«, »Deutsches Militärwörterbuch und Nato- ABC «, »The Special Forces Handbook«, »Le Coup d’Etat«, »Selbstverteidigung«, »Polizei der BRD «, »Grundlagen der Befehlstechnik«, »Attentäter und Saboteure – der moderne Terrorismus«, »Der Sprengmeister – neuzeitliche Sprengtechnik«, »Handbuch für Kleinoffsetdruck und Reprofotografie« …
»Diese Arbeitsunterlagen«, kommentierte der BKA -Beamte Alfred Klaus in einem Bericht, »waren durchaus geeignet, das politische, logistische und operative Wissen zu erweitern und jeden Inhaftierten in die Lage zu versetzen, nach seiner Freilassung oder Befreiung selbständig Guerillagruppen aufzubauen und zu führen.«
Während jeder Untersuchungshäftling sich nur sorgfältig und oft kleinlich gefilterte Literatur zuschicken lassen darf, gestatteten die BM -Richter solches Schulungsmaterial.
Gleichzeitig arbeitete der Gesetzgeber an neuen Paragraphen, die das verhindern sollten, was vorher großzügig gestattet worden war. In einer Broschüre, die der Bundesminister für Justiz 1982 verbreitete, steht als Begründung für die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen der – wohl eher unbeabsichtigt – deutliche Satz: »Aus der Haft heraus terroristische Organisationsformen aufrechtzuerhalten und weitere Straftaten zu planen und vorzubereiten, erforderte eine Verbesserung des strafrechtlichen Instrumentariums.«
10. »Was wollt Ihr denn, Ihr lebt ja noch«
Sie hatten ihren Untergrundkampf als eine Art Experiment begonnen, indem sie Leben und Freiheit einsetzten, um zu zeigen, daß der Staat so war, wie sie ihn sich vorstellten: faschistisch.
Jetzt, im Gefängnis, sahen sie sich als Opfer, verglichen sich mit den Insassen nationalsozialistischer Konzentrationslager.
»Der politische Begriff für den toten Trakt, Köln, sage ich ganz klar – ist: das Gas«, schrieb Ulrike Meinhof. »Meine Auschwitzphantasien darin waren realistisch …«
Und Gudrun Ensslin notierte: »Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald. Der Unterschied ist einfach: Buchenwald haben mehr überlebt als Auschwitz … Wie wir drin ja, um das mal klar zu sagen, uns nur darüber wundern können, daß wir nicht abgespritzt werden. Sonst über nichts …«
Mit der Einführung des »Info« war die Kommunikation unter den Gefangenen in den verschiedenen Haftanstalten wesentlich verbessert worden. An der nächsten Hungerstreikaktion beteiligten sich etwa vierzig Häftlinge, darunter einige, die nicht der
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