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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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Breitengraden umherschweift …«
    Für ihn ist das Walfangschiff »Pequod« ein perfektes Abbild der kapitalistischen Produktionsbedingungen, so wie sie auch Karl Marx beschreibt. Der Wal ist »die vorweggenommene Metapher« für das Kapital, den »Vampir«: »Ahab/Marx haßt seinen Feind. Er will ihn zerstören, hat mit ihm eine persönliche Rechnung zu begleichen, flößt seinen Schiffskameraden, den Walfängern, seinen Haß ein. Schließlich schreien sie mit ihm gemeinsam: ›Freiheit oder Tod‹. Pottwal oder Tod. Den Pottwal zu erlegen heißt, an den großen Kuchen zu kommen, aber auch, vom zyklischen Auftauchen des Monsters einmal profitierend, die Revolution zu vollbringen. All das gibt die direkte Lesart her, die heroische, positive, simple: Man tötet den Wal, man ist frei, man ißt ihn auf, kurz, das goldene Zeitalter ist da. Sie wissen nicht, daß der Tod des Monsters auch der ihre ist.«
    Eine Mannschaft in einem Boot, inmitten eines feindlichen Meeres, so etwa muß Gudrun Ensslin die RAF gesehen haben, als sie die Decknamen der Mannschaft der »Pequod« entlehnte, um draußen, jenseits der Gefängnismauern, die Truppen zusammenzuhalten und sie zu immer grausigeren Taten gegen den gemeinsamen Feind zu motivieren.
    Der BKA -Beamte Alfred Klaus war außerordentlich beeindruckt, als er Gudrun Ensslins Kassiber mit den Decknamen und deren Herkunft entschlüsselte. Er mußte immer wieder daran denken, wenn er später nach Stammheim in den Hochsicherheitstrakt geschickt wurde, um mit den Gefangenen zu verhandeln: »So wie Kapitän Ahab mit seinem Walfangschiff gescheitert ist, ist der selbsternannte Revolutionär Andreas Baader auch gescheitert und mit seiner Gruppe untergegangen am Ende.«
     
    In einem solchen mythologisch überhöhten Krieg war zumindest das Gefängnispersonal hoffnungslos überfordert. Der stellvertretende Anstaltsleiter Ulrich Schreitmüller erinnerte sich: »Wir konnten nur zuschauen, was die da machten. Die saßen zusammen, die schrieben irgend etwas, das gaben sie ihren Anwälten, das ging raus. Und wir konnten nichts dagegen tun.«

9. Das Info-System
    Mit den Decknamen aus »Moby Dick« neu getauft, verständigten sich die Gefangenen im Frühjahr 1973 durch ein neu aufgebautes Informationssystem. Ziel war es, den Gruppenzusammenhalt zu wahren und damit die »politische Identität«, das »revolutionäre Bewußtsein« zu erhalten.
    Über die damals noch unkontrollierte Verteidigerpost wurden Nachrichten an die einzelnen Gefangenen verteilt. Gudrun Ensslin: »Die roten Anwälte sind dazu unentbehrlich, ohne ihre gebündelten und sortierten Informationen geht es nicht.«
    Zunächst sollte die Kanzlei des Hamburger Rechtsanwalts Kurt Groenewold als »zentrale Kontakt- und Schaltstelle zur Information für alle Gefangenen und zwischen den Anwaltsbüros sowie für die Komitees« dienen.
    »Ohne diese Systematisierung«, meinte Gudrun Ensslin, »kommt sonst früher oder später Scheiße zustande und dann ’ne Sekte raus, eingesperrt, fromm und doof …«
    Im »Info-System« hieß Andreas Baaders Zelle »Kajüte«. Gudrun Ensslin nannte ihre eigene Zelle das »Sekretariat«. Von hier aus bestimmte sie den Kurs. Zusammen mit Baader, der von RAF -Gefangenen auch »Generaldirektor« genannt wurde, bildete sie den »Stab«. Sie entschieden über die Verteilung der »Info«-Materialien, »damit jeder, der sie kriegen soll, sie auch kriegt, und die, die sie nicht kriegen sollen, sie nicht kriegen. Kann den Anwälten nicht überlassen werden.«
    Bei Verstößen gegen die »revolutionäre Disziplin« war vorgesehen – und wurde auch durchgesetzt –, den »Abweichlern« das Info vorzuenthalten. Gudrun Ensslin notierte dazu auf der Rückseite eines Anwaltsbriefes: »Sanktion: Ausflippen aus der Kommunikation«.
    Den Befehlsbegriff der RAF definierte sie so:
    »Was ist ein Befehl?
    Ein Befehl resultiert aus dem Aufbau des Kollektivs, aus dem Abbau jeder Art von Hierarchie.
    Ein Befehl ist das, wovon einer überzeugt ist bzw. überzeugt wird. Und wenn das nicht möglich ist, woran einer ausflippt …«
    Was die »revolutionäre Disziplin« in der Praxis bedeutete, wurde am Beispiel Astrid Prolls deutlich. Durch die monatelange Unterbringung in der »stillen Abteilung« in Köln-Ossendorf körperlich und seelisch am Ende, hatte sie den ersten Hungerstreik nicht konsequent mitgemacht. Von Andreas Baader kam daraufhin die Aufforderung: »Astrid soll mal mitteilen, ob die Information stimmt, daß

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