Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
gesprungen war und sich davor eine Kolonne Wagen gestaut hatte. Er jagte über den Fußgängerweg und schleuste sich zwischen Lichtmast und Ampel auf die Kreuzung. Bei von links und rechts fließendem Verkehr raste er über die Straße. Kurz vor ihnen versuchte ein Lastwagen, rückwärts auf die Straße zu setzen. Boock fuhr beinahe den Mann mit dem Signalfähnchen um und setzte seine wilde Fahrt fort.
Sieglinde Hofmann hatte eine Spritze mit einem Kurzzeitnarkotikum aufgezogen und Schleyer das Mittel injiziert. Der Arbeitgeberpräsident lallte halb betäubt: »Das tut ja nicht nötig.« Boock herrschte ihn an: »Was hier nötig ist, bestimmen wir.«
Um 17 . 33 Uhr rief ein Zeuge des Überfalls die Notrufnummer 110 an: »Hier schießen mehrere Leute mit Maschinenpistolen. Mehrere Tote und Verletzte.« Zwei Minuten später waren zwei Streifenwagen am Tatort. Sie bestellten einen Notarztwagen und den Rettungshubschrauber. Doch Schleyers Fahrer Heinz Marcisz und die Polizeibeamten Brändle, Pieler und Ulmer waren bereits tot.
Die Bundesregierung und das Bundeskriminalamt wurden informiert, eine Ringfahndung lief an. Um 18 . 30 Uhr fuhren Bundesjustizminister Vogel und Staatsminister Wischnewski zum Tatort. Neunzehn Minuten später verbreitete der WDR die erste Nachricht über die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und den Tod seiner vier Begleiter. Kurz darauf wiederholten auch die übrigen Rundfunkanstalten die Meldung.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes hatte sich bis zum 7 . September vom Dienst abgemeldet. Er wollte ein paar Tage mit seinem Kollegen vom Bundesamt für Verfassungsschutz verbringen. Auf ausgedehnten Wandertouren im schönen bayerischen Bergland wollten die beiden mal wieder über den Terrorismus philosophieren und Bekämpfungskonzepte erörtern. Als die Nachricht von der Entführung Schleyers eintraf, packte Herold in aller Eile seine Sachen zusammen und verließ sein Hotelzimmer. Aus dem Dienstwagen rief er seinen »Abteilungsleiter Terrorismus« Gerhard Boeden an und ließ sich die Einzelheiten des Anschlags durchgeben. Dann nahm er einen Stadtplan von Köln auf die Knie und gab strategische Anweisungen. Er war sicher, daß die Täter den Rhein nicht überqueren würden. Sie mußten noch in der Nähe sein, innerhalb des sofort gebildeten Fahndungsringes. »Die Täter«, sagte Herold seinem Kollegen und später auch dem Innenminister Maihofer, »sind uns alle bekannt. Über kurz oder lang werden sie sich in dem von uns angelegten Informationsgestrüpp verfangen. Sie werden in die ausgelegten Fallen tappen oder dem über sie hereinbrechenden engmaschigen Schleppnetz zum Opfer fallen.«
Höchste Priorität habe die Suche nach dem Versteck Schleyers. Jetzt sollten die »Fahndungsraster nach konspirativen Wohnungen« eingesetzt werden, die Herold in den vergangenen Monaten und Jahren erarbeitet hatte. Terroristenschlupfwinkel besaßen immer einige Gemeinsamkeiten, die zur Wahrung der Konspiration unbedingt notwendig waren. Strom und Miete wurden zumeist in bar gezahlt, Kautionen waren anstandslos, ebenfalls in bar, hinterlegt worden. Es waren Appartements in Hochhäusern mit Tiefgarage, immer in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Autobahnauffahrt. Herold konnte die Wohnung, in der Schleyer gefangengehalten wurde, förmlich vor seinem geistigen Auge sehen. Er kannte sogar die Bewacher aus den genauen Steckbriefen, die in Computerdateien festgehalten wurden. Sie mußten nur gefunden werden. Das war alles. Eigentlich ein Kinderspiel.
Als Herold in seinem Wiesbadener Amt eintraf, fiel seinem Adjutanten, Kriminaldirektor Wolfgang Steinke, auf, wie gramvoll und übernächtigt er aussah. Nachdem er sich kurz über die getroffenen Maßnahmen unterrichtet hatte, zog er, so Steinke, »die übliche Leier« ab. Er sei im wesentlichen von Vollidioten umgeben, die Stunden nach der Faktenkenntnis noch immer mit leeren Händen dastünden. Er überflog ein paar Fernschreiben und regte sich dann darüber auf, daß Innenminister Maihofer einen von kriminalistischer Arbeit eher unbefleckten jungen Beamten zum Leiter der Sonderkommission ernannt hatte. Langsam erholte sich Herold und holte dann »zum großen Schlag aus«, wie Steinke sich erinnert: »Für viele, die immer wieder die Ideologie der RAF eingehämmert bekamen, war dies nicht das erste Semester Anarchismus/Terrorismus. Einige allerdings lauschten gespannt, denn so etwas hatten sie noch nie vernommen. Da waren
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