Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Kreis auf den Fußboden. In der Mitte lag ein alter Eimerdeckel, der als Aschenbecher diente. Die armselige Lampe erleuchtete nur den Fußboden, die Gesichter blieben im Dunkeln und verschwammen schließlich im Nebel des Zigarettenrauches. Die Worte hallten in der leeren Wohnung, und so senkten alle die Stimmen. Zunächst wurde der letzte Kassiber aus Stammheim debattiert. Die ultimative Aufforderung der RAF -Gründer, jetzt endlich etwas zu tun, sonst würde man selbst irreversible Fakten setzen, ließ nur eine Antwort zu. Boock: »Es war eigentlich ziemlich schnell der Punkt erreicht, wo wir uns gesagt haben, weiter zu warten, ob es noch eine bessere Möglichkeit gibt, würde nichts ändern. Gut, dann müssen wir es hart durchziehen. Hart bedeutet, wir müssen die Begleiter erschießen, um an Schleyer ranzukommen.«
Einer der Anwesenden bekam Skrupel: »Nein, unter solchen Druck möchte ich mich nicht setzen lassen. Es muß auch anders gehen. So kann ich da nicht mitziehen.«
»Na gut, dann gehst du jetzt nach nebenan, und wir besprechen weiter«, antwortete einer aus der Führungsriege. »Das geht dich dann ja auch nichts mehr an.« Der Betreffende stand auf und verließ das Zimmer. Daraufhin rückte Peter-Jürgen Boock in die Position des Fahrers auf: »Jemand, der unter so einem Druck und Streß noch relativ ruhig fahren konnte, davon hatten wir nicht so viele.« Dadurch sei er in diese Rolle hineingerutscht. »Aber ich hätte zu der Zeit auch in jeder anderen Funktion mitgemacht.«
Aus dem Hauptquartier im Uni-Center hatten sie große Papierbögen und Filzstifte mitgebracht. Darauf skizzierten sie den geplanten Entführungsort und den vermuteten Ablauf: »Wer macht was, wer steht wo, wie verständigt man sich untereinander, was muß im Auge behalten werden.« Die gesamte Aktion wurde wieder und wieder durchgespielt. »Wobei das, was nachher real passierte, nicht dabei war.«
»Es war eine vollkommen emotionslose Debatte«, erinnerte sich Boock später. »Ich habe hinterher in Bagdad mal einem anderen Mitglied der RAF gesagt: ›Das war unsere Wannseekonferenz.‹« So wie die Funktionäre der Nazis ihren Plan zur »Endlösung« debattiert hätten, so kalt sei über die Ermordung von Schleyers Begleitern gesprochen worden. »Eine Art und Weise von nüchterner Sachlichkeit, obwohl uns die Ungeheuerlichkeit dessen, was wir besprachen, bewußt war.« Doch das, so glaubte Boock später, war wohl die einzige Möglichkeit, mit dem Geplanten umzugehen. »Wenn wir uns dieser Dimension der Ungeheuerlichkeit verbal genähert hätten, wäre es schon fast nicht mehr möglich gewesen.«
Der Fahrer wurde als bewaffneter Bodyguard angesehen. Damit war das Thema vom Tisch. »Unter anderen Umständen hätte ich sicherlich gefragt, wieso sollen wir den Fahrer eigentlich erschießen, was soll das, wir können den Mann doch laufenlassen. Dem gibt man einen Tritt in den Arsch, und das war’s.« Aber selbst für derart reduzierte moralische Überlegungen war kein Raum mehr. »Eine so emotionslose, eiskalte Diskussion«, so Boock, »habe ich in der Weise nie zuvor erlebt und auch nie später.«
Danach ging es zurück ins Uni-Center. Boock präparierte die Waffen und begann, sie in einen Kinderwagen zu packen, in dem auch die Langwaffen unauffällig zum Überfallort gebracht werden sollten.
Stefan Wisniewski sollte vor Ort den Anführer spielen. So war das bei Kommandoaktionen üblich. »Das ist ganz klar«, erinnerte sich Boock, »du hast keine Zeit zu diskutieren.«
Brigitte Mohnhaupt sollte an der Aktion nicht teilnehmen. Auch das entsprach der RAF -Linie. »Es war klar, daß Brigitte nicht teilnimmt, der alten Maßgabe folgend, daß immer eine Leader-Person übrig sein muß, um die Gruppe rekonstruieren zu können, wenn etwas schiefgeht. Sie ist verdonnert worden, nicht dabeizusein. Sie wollte, aber der Mehrheitsbeschluß lautete: Nein.«
5. Kapitel Vierundvierzig Tage im Herbst
1. Die Entführung
(Montag, 5 . September 1977 )
Warnungen hatte es genug gegeben.
Nach der Ermordung des Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, am 30 . Juli 1977 hatten die Ermittler herausgefunden, daß drei Wochen zuvor, am 6 . Juli, ein junger Mann im Hamburger »Weltwirtschaftsinstitut« Unterlagen über Ponto und Schleyer eingesehen hatte. »Ich schreibe eine Doktorarbeit über führende Personen der Wirtschaft«, hatte der Mann gesagt und ordnungsgemäß den Besucherschein ausgefüllt. Erst als Jürgen Ponto tot
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