Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
sie wieder alle, die Theorien aus den Schriften der großen Anarchisten und der ersten Generation der RAF . Die Nutzung der Massenhysterie, die Nutzung der Perspektivlosigkeit der intellektuellen Jugend, in deren Hirnen sich die sichere Annahme des Unrechtsstaates Bundesrepublik Deutschland verfestigt hatte.« Herold war in seinem Element. Er dozierte über die Planungstreue und die kaltblütige Durchsetzung der RAF -Konzepte mit brutalsten und damit eindrucksvollsten Mitteln. Wieder einmal habe die RAF gezeigt, daß ein Kommandounternehmen selbst dann erfolgreich sein könne, wenn die Zielperson höchsten Schutz genieße. »Ihr könnt tun, was ihr wollt«, zitierte Herold die RAF , »wen wir uns holen wollen, den holen wir uns.« Herold steigerte sich in seiner Wut auf den Gegner: »Ich habe im Fall Lorenz die Bundesregierung händeringend bekniet, gewarnt, beschworen, hart zu bleiben. Anderenfalls wird uns eine zweite, viel gewalttätigere Entführungsaktion nicht erspart bleiben. Sie, Steinke, waren immer dabei, Sie sind mein Zeuge!«
In all seinem Zorn lag auch ein gewisser Stolz. Er hatte recht gehabt. Aber seine Warnungen waren in den Wind geschlagen worden. Man hätte, und darin waren mit ihm viele Polizisten einig, Lorenz opfern müssen, um die Unnachgiebigkeit des Staates zu manifestieren. Auch Ponto sei als Entführungsopfer gedacht gewesen. Dadurch, daß er sich so vehement gewehrt habe, sei ihm viel erspart geblieben. Posthumer Trost für den toten Bankier. »Keiner hat auf mich gehört«, schimpfte Herold, »und nun haben wir den Salat.«
Die hinteren Fenster des VW -Busses waren mit Gardinen verhängt, aber in der Eile der Flucht hatten die Entführer vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. In rasender Fahrt ging es weiter zur Tiefgarage des Hochhauses am Wiener Weg, in dem der Mercedes für die Weiterfahrt wartete. Der Parkplatz nebenan war besetzt, und so mußten sie mit dem Bully ein Stück weiter entfernt parken und den halb betäubten Arbeitgeberpräsidenten zum Mercedes schleppen. Zwischen hinterer Sitzbank und Kofferraum hatten sie ein Luftloch in die Trennwand geschnitten. Sie verstauten Schleyer im Kofferraum, und Stefan Wisniewski legte sich zu ihm, die Pistole im Anschlag. Boock setzte sich ans Steuer, Sieglinde Hofmann rutschte auf den Beifahrersitz, und Willy Peter Stoll legte sich auf die Rückbank. Es sollte so aussehen, als befänden sich nur zwei Leute in dem Fahrzeug.
Sie waren schon fast aus der Tiefgarage herausgefahren, da fiel Sieglinde Hofmann ein, daß sie vergessen hatten, den Zettel mit der vorbereiteten RAF -Erklärung im VW -Bus abzulegen. Sie setzten zurück und deponierten das Papier im Wagen. Schleyer, so hieß es darin, sei von einem Kommando der RAF entführt worden, weitere Erklärungen und Forderungen würden folgen. Dann rasten sie davon, Richtung Erftstadt-Liblar.
Als sie in die Tiefgarage des Hochhauses Zum Renngraben 8 fuhren, fragte einer nach hinten: »Alles okay? Ist die Luft in Ordnung?« Stoll gab die Frage in den Kofferraum weiter. Dort sollten Schleyer und sein Bewacher noch zwei Stunden verharren, bis sie zu späterer Stunde ins »Volksgefängnis« gebracht wurden. Als Schleyer sich regte, wollte Wisniewski ihm eine zweite Betäubungsspritze setzen. Doch der Entführte sagte, er wolle keine weitere Spritze, er würde auch so absolut still sein. Wisniewski war einverstanden, warnte ihn jedoch: »Ich liege mit geladener Knarre hinter dir. Bilde dir nicht ein, du könntest hier lebend rauskommen. Wenn du Krach machst, gehen wir beide drauf.«
Boock, Sieglinde Hofmann und Stoll fuhren im Aufzug in den dritten Stock. Dort, in dem sorgsam für die Entführung vorbereiteten Appartement 104 , wartete Brigitte Mohnhaupt auf das Kommando und sein Opfer. In der Dreizimmerwohnung war ein Raum als bürgerliches Wohnzimmer eingerichtet, der andere als Schlafzimmer. Hier sollte Schleyer untergebracht werden. Im Kinderzimmer hatten sie ein paar Luftmatratzen zwischen leeren Kartons und Gerümpel ausgebreitet.
Boock mußte dringend auf die Toilette und sagte im Vorbeigehen zu Stoll: »Mein Gott, so was machst du aber nicht noch mal.« Er meinte damit den Sprung in seine Schußbahn. Plötzlich merkte er, wie seine Hände flatterten. Er blickte nach unten und wunderte sich, wie schnell sie zitterten. Er fror, seine Finger waren eiskalt, obwohl es in der Wohnung stickig warm war.
Später legte er sich auf eine der Luftmatratzen und regte sich für eine Stunde nicht.
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