Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
prüfen.
Einen Sinn erhält dieser mysteriöse Vorgang, wenn unterstellt wird, daß die Kommunikationsanlage im siebten Stock längst entdeckt worden war, man die Gefangenen aber weiter miteinander sprechen lassen wollte, um zu erfahren, welche Pläne sie erörterten.
Über die Jahre ihres gemeinsamen Aufenthaltes im siebten Stock hatten sich Gefangene und Wärter einigermaßen kennengelernt. Horst Bubeck etwa wußte, daß Jan-Carl Raspe, dem Gudrun Ensslin den Namen »Zimmermann« gegeben hatte, über ungewöhnliches handwerkliches Geschick verfügte. Einmal hatte er aus einer Tablette eine Plombe nachgemacht, mit der sein Radio versiegelt war und mit der man verhindern wollte, daß Raspe den UKW -Teil zum Sender umbaue. Raspe hatte nicht gewußt, daß vorher Teile entnommen worden waren, so daß ein Umbau unmöglich war, und versuchte es trotzdem. Die Plombenattrappe fiel über Monate keinem der Beamten als Fälschung auf. »Vom Aussehen her hundertprozentig«, sagte Bubeck später anerkennend.
Die Vollzugsbediensteten und Beamten des Landeskriminalamtes, die oftmals die Zellen durchsucht hatten, wußten auch, daß vor allem Raspe eine Menge Elektrobauteile, Kabel, Stecker usw. besaß. Sogar ein Mikrophon war bei ihm entdeckt worden. Er durfte es behalten. Die Beamten hatten angeblich keine Ahnung, was die Gefangenen mit diesen Dingen anstellten.
Erst nach dem Tod der Häftlinge im siebten Stock rekonstruierten Kriminalbeamte und ein Ingenieur der Bundespost, wozu die Gefangenen all das verwendet hatten.
Dabei hätte man in der Vollzugsanstalt gewarnt sein müssen. Denn schon drei Jahre zuvor hatten findige Häftlinge in Stammheim ein Kommunikationssystem von Zelle zu Zelle entwickelt. Dazu hatten sie das Leitungssystem, über das in der Anstalt bis 22 . 00 Uhr Rundfunkprogramme in die Zellen übertragen wurden, nachts angezapft und ein eigenes Programm von einem Radio und einem Kassettenrecorder eingespeist: »Heute, liebe Hörer, einige Tips für Sie. Hängt Ihnen das eintönige Essen zum Hals heraus, können Sie zuwenig Sport treiben oder haben Sie andere Nöte, beschweren Sie sich und schreiben Sie unaufhörlich. Je mehr, je besser … Für heute sagt Ihnen tschüs, Ihr Stammheim III .«
Als die Vollzugsbeamten den Standort und die Arbeitsweise der Stammheimer Rundfunkpiraten entdeckt hatten, wurde das Leitungssystem nachts kurzgeschlossen. Damit war es nicht mehr zum Schwarzfunk geeignet.
Ein Beamter, der Werkmeister Halouska, war 1974 daran beteiligt, den inhaftierten Programmachern das Handwerk zu legen.
Drei Jahre später, im Sommer 1977 , klemmte Halouska auf Wunsch der Gefangenen Irmgard Möller und mit Wissen der Anstaltsleitung die Rundfunkdrähte in ihrer Zelle vom Haussystem ab. Damit wurde die nächtliche Erdung wirkungslos, und die Leitungen im siebten Stock konnten heimlich benutzt werden.
Die Drähte verliefen von Irmgard Möllers Zelle bis zum hinteren Ende des Traktes, wo Gudrun Ensslin in Nummer 720 saß, von dort aus weiter über den Flur bis zu Andreas Baaders Zelle 719 , die gegenüber lag. Raspe war von Baader durch das Treppenhaus getrennt, konnte also über das Lautsprecherkabel, das dort unterbrochen war, nicht erreicht werden.
Allerdings gab es ein zweites Leitungsnetz durch den Hochsicherheitstrakt, die Wechselstromleitung für den sanitären Bereich, die parallel zur normalen Stromversorgung der Zellen verlief. Diese Leitung war für Trockenrasierer gedacht und führte nur zu bestimmten Zeiten Strom. Bei abgeschalteter Elektrizität konnten auch die Rasierleitungen für Kommunikation benutzt werden. Diese Leitungen auf beiden Seiten des Traktes waren nicht miteinander verbunden. Erst die Koppelung der Rundfunkdrähte mit dem Rasierstromnetz ermöglichte eine Kommunikation durch den ganzen Trakt. Es mußte lediglich eine »Brücke« zwischen beiden Systemen geschlagen werden. Möglich war das in Baaders Zelle, der 719 , und der Zelle 718 . Dafür passende Verbindungskabel wurden dort nach dem Tod des Gefangenen gefunden.
Alle Häftlingszellen im Hochsicherheitstrakt waren so miteinander verkabelt. Für eine funktionierende Gegensprechanlage mußten nur noch Sender und Empfänger angeschlossen werden.
Diese gab es in jeder Zelle: die Verstärker und Lautsprecher der Stereoanlagen, die sowohl mit Netzanschluß als auch mit Batterien betrieben werden konnten. Die Gefangenen hatten die Geräte auch während der Kontaktsperre behalten dürfen.
Jeden Lautsprecher und
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