Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
zu wissen, wer es war. Wenn man mal wußte, wer es war, dann hatte man ihn gleich. Aber hier war es ganz umgekehrt. Das war die neuartige Erfahrung sozusagen.«
Herold schlug vor, den im Tatfahrzeug gefundenen Brief nicht zu veröffentlichen, um so die Entführer zu einer neuen Mitteilung zu zwingen.
Am Nachmittag des 6 . September fand die Tochter eines evangelischen Dekans in Wiesbaden im Briefkasten einen Umschlag »an die Bundesregierung«. Sie legte ihn ungeöffnet auf den Schreibtisch ihres Vaters. Zwanzig Minuten später kam der Dekan nach Hause und öffnete den Brief. Er warf einen Blick darauf. Das Telefon klingelte, und ein Unbekannter meldete sich: »In Ihrem Briefkasten liegt ein Brief an die Bundesregierung. Leiten Sie ihn weiter.« Dann hängte der Anrufer ein. Der Dekan rief die Polizei in Wiesbaden und das Bundeskriminalamt an, das den Brief sofort abholen ließ. In dem Umschlag steckten zwei Fotos von Schleyer, eins zeigte ihn vor dem Zeichen der » RAF « mit dem Schild »Gefangener der RAF «. Das zweite war ein Privatfoto, das der Entführte offenbar bei sich getragen hatte.
In dem Brief stand: »am montag, den 5 . 9 . 77 hat das kommando siegfried hausner den präsidenten des arbeitgeberverbandes und des bundesverbandes der deutschen industrie, hanns martin schleyer, gefangengenommen.«
Die Entführer verlangten: »sofortige einstellung aller fahndungsmaßnahmen – oder schleyer wird sofort erschossen.« Als Bedingung für die Freilassung forderten sie:
» 1 . die gefangenen aus der raf, andreas baader, gudrun ensslin, jan-carl raspe, verena becker, werner hoppe, karl-heinz dellwo, hanna krabbe, bernd rösner, ingrid schubert, irmgard möller werden im austausch freigelassen und reisen in ein land ihrer wahl. günter sonnenberg, der seit seiner festnahme wegen seiner schußverletzung haftunfähig ist, wird sofort freigelassen. sein haftbefehl wird aufgehoben …
2 . die gefangenen sind bis mittwoch, 8 uhr früh, auf dem flughafen in frankfurt zusammenzubringen … um 10 uhr vormittags wird einer der gefangenen das kommando in direktübertragung durch das deutsche fernsehen über den korrekten ablauf ihres fluges informieren …«
Als »garantie für das leben der gefangenen« während des Transports schlugen die Entführer vor, »payot, den generalsekretär der internationalen föderation für menschenrechte bei der uno«, sowie Pfarrer Niemöller mit auf die Reise zu schicken. Jedem Gefangenen sollten 100 000 Mark mitgegeben werden.
»wir gehen davon aus«, hieß es im Schlußsatz des Schreibens, »daß schmidt, nachdem er in stockholm demonstriert hat, wie schnell er seine entscheidungen fällt, sich bemühen wird, sein verhältnis zu diesem fetten magnaten der internationalen wirtschaftscreme ebenso schnell zu klären.«
Beigelegt war noch ein handschriftlicher Brief Schleyers: »Mir wird erklärt, daß die Fortführung der Fahndung mein Leben gefährde. Das gleiche gelte, wenn die Forderungen nicht erfüllt und die Ultimaten nicht eingehalten würden. Mir geht es soweit gut, ich bin unverletzt und glaube, daß ich freigelassen werde, wenn die Forderungen erfüllt werden. Das ist jedoch nicht meine Entscheidung. Hanns Martin Schleyer.«
Den Text hatten ihm die Entführer diktiert. Bei einigen Formulierungen hatte er gezögert und gesagt: »Das klingt aber nicht so, als wenn ich das gemacht habe.«
»Wie hättest du es denn gesagt?«
Schleyer machte einen Vorschlag.
»Na, wunderbar, dann schreib es auch so.«
Vor allem versuchte der entführte Arbeitgeberpräsident den Eindruck zu vermeiden, er wolle die Bundesregierung auffordern, der Erpressung nachzugeben. Nur zu indirekten Formulierungen war er bereit. Die Entführer waren damit einverstanden.
Kurz nach 19 . 00 Uhr stürmte Bundeskanzler Schmidt in das Büro des Oppositionsführers im Bonner Bundeshaus: »Herr Kohl, ich muß Sie mal unter vier Augen sprechen.« Kohls Mitarbeiter verließen wortlos den Raum. Schmidt schilderte in knappen Worten den Inhalt des Entführerschreibens und stimmte seine Taktik mit dem CDU -Chef ab:
Zunächst alles auf Zeitgewinn setzen; ein Austausch sollte um jeden Preis vermieden werden. Kohl war mit der harten Linie einverstanden. Was das bedeutete, umriß der SPD -Abgeordnete Peter Corterier noch am selben Abend in einem Interview mit der britischen Rundfunkgesellschaft BBC :
»Glauben Sie, daß Herr Schmidt sich einem Erpressungsversuch der Terroristen beugen wird?« fragte
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