Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Gefangenen inzwischen ein leidlich gutes Verhältnis aufgebaut hatte, besuchte Jan-Carl Raspe in dessen Zelle. Er traf auf einen Gefangenen, der einen vollkommen deprimierten Eindruck machte, über Schlafstörungen klagte und dem das Sprechen schwerfiel. Raspe hatte Tränen in den Augen und sprach von Gedanken an Selbstmord.
Henck erschrak. Zwar hatte er unterschwellig schon seit längerer Zeit die Befürchtung gehabt, die Gefangenen könnten Selbstmord begehen. Jetzt aber schien die Gefahr akut. Er kannte die Häftlinge als abweisend, kühl und vor allem beherrscht. Daß Raspe ihm jetzt von seinen Schlafstörungen berichtete, war für den Arzt etwas völlig Neues. Die Gefangenen im siebten Stock hatten ihre Zellen abgedunkelt. Das erschien dem Psychiater als ein Zeichen für »Introvertiertheit, Regressivität, des Sich-Zurückziehens«.
Er konnte nachvollziehen, wie sich die Kontaktsperre auf die Häftlinge auswirkte. Schon vor der offiziellen Verhängung waren die Vollzugsbedingungen im Hochsicherheitstrakt über mehrere Wochen sehr streng gewesen. Nach der Schlägerei am 8 . August war die Verschärfung als »Hausstrafe« angeordnet worden. »Das könnte man ja ad absurdum weiterführen«, hatte Baader ihm gesagt. Dr. Henck meinte später, die in Stammheim untergebrachten Gefangenen hätten die Kontaktsperre gleichsam als Fortsetzung der Hausstrafe empfunden und deshalb schwerer darunter gelitten als Häftlinge in anderen Anstalten.
Nach seinem Besuch bei Raspe schrieb der Arzt einen Vermerk für die Anstaltsleitung: »Nach dem Gesamteindruck muß davon ausgegangen werden, daß bei dem Gefangenen eine echte suizidale Handlungsbereitschaft vorliegt. Ich bitte um Kenntnisnahme und Mitteilung, auf welche Art und Weise ein eventueller Selbstmord verhindert werden kann.«
Am Nachmittag ließ der stellvertretende Anstaltsleiter, Regierungsdirektor Schreitmüller, den Arzt und den Amtsinspektor Bubeck zu sich kommen. Er wollte wissen, welche Maßnahmen man trotz Kontaktsperre ergreifen könne. »Ist es vertretbar, Raspe in eine Beruhigungszelle zu verlegen oder ihn bei angeschaltetem Licht nachts laufend zu überwachen?«
Beide Möglichkeiten hielt Henck für nicht durchführbar: »Dadurch wird der Druck auf Raspe noch mehr verschärft.«
Man entschied zunächst, Henck solle Raspe einmal täglich aufsuchen.
Noch wenige Monate zuvor war man in Stammheim nicht so rücksichtsvoll gewesen, wenn es galt, die Häftlinge nachts zu kontrollieren; das geht aus Nachtdienstmeldungen hervor.
Am 16 . August 1977 wurde vermerkt:
»Die Zellen 719 /Baader, 720 /Ensslin/Möller, 721 /Schubert mußten geöffnet werden, da die Gefangenen auf Anruf nicht reagierten. 23 . 08 – 23 . 45 Uhr.«
Am 18 . August:
»Die BM -Gefangenen wurden um 11 . 00 Uhr, 2 . 00 Uhr und 5 . 00 Uhr durch Öffnen der Zellentüren kontrolliert.«
Am 19 . August:
» 2 . 04 – 2 . 11 Uhr Kontrolle durchgeführt.
5 . 08 – 5 . 12 Uhr Kontrolle durchgeführt.«
Am 20 . August:
» 1 . 51 – 2 . 05 Uhr Kontrolle durchgeführt. Zellen 767 und 720 wurden geöffnet, da die Gefangenen auf Anrufe nicht reagierten. 4 . 58 – 5 . 05 Uhr Kontrolle durchgeführt. Die Gefangene Möller gibt kein Lebenszeichen: 5 . 05 Uhr Arzt wurde vom Revier geholt.«
Am 21 . August:
»Die Zelle 720 /Ensslin/Möller wurde geöffnet, da die Gefangenen auf Anrufe keine Antwort gaben. 2 . 04 bis 2 . 07 Uhr Kontrollen durchgeführt. Die Gefangene Ensslin gibt kein Lebenszeichen: 2 . 07 Uhr Arzt wird geholt …
5 . 03 bis 5 . 09 Uhr Kontrollen durchgeführt.«
In der Nacht vom 21 . auf den 22 . August 1977 wurden die Gefangenen noch häufiger kontrolliert:
19 . 10 Uhr Verena Becker, 19 . 13 Uhr Gudrun Ensslin, 21 . 26 Uhr Becker, 21 . 28 Uhr Ensslin, 23 . 05 Uhr Becker, 23 . 08 Uhr Raspe, 23 . 10 Uhr Baader, 23 . 15 Uhr Ensslin, 23 . 17 Uhr Irmgard Möller, 0 . 45 Uhr Becker, 0 . 58 Uhr Ensslin, 2 . 10 Uhr Becker, 2 . 12 Uhr Raspe, 2 . 13 Uhr Baader, 2 . 15 Uhr Ensslin, 2 . 17 Uhr Möller, 4 . 04 Uhr Becker, 4 . 06 Uhr Ensslin, 5 . 25 Uhr Becker, 5 . 27 Uhr Raspe, 5 . 29 Uhr Baader, 5 . 31 Uhr Ensslin, 5 . 32 Uhr Möller (»gibt kein Lebenszeichen, 5 . 37 Uhr Arzt trifft ein«).
So ging das fast jede Nacht, bis zur Kontaktsperre. Als der Gefängnisarzt Dr. Henck Selbstmordgefahr bei Jan-Carl Raspe diagnostizierte, wurden die Nachtdienstkontrollen mit »Rücksicht auf die Gefangenen« nicht wiederaufgenommen.
Oder gab es inzwischen andere Möglichkeiten,
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