Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Apotheke war, um Medizin für seinen drei Monate alten Sohn zu besorgen. Bachmann stellte sich vor ihn und fragte: »Sind Sie Rudi Dutschke?«
»Ja.«
»Du dreckiges Kommunistenschwein«, sagte Bachmann. Dann zog er seine Pistole.
Der erste Schuß traf Rudi Dutschke in die rechte Wange. Er stürzte vom Fahrrad auf die Straße, riß sich die Schuhe von den Füßen und die Uhr vom Handgelenk. Bachmann schoß noch zweimal, traf Dutschke am Kopf und in der Schulter.
Dann lief er weg, flüchtete sich ein paar hundert Meter weiter in den Keller eines Rohbaues.
Rudi Dutschke richtete sich auf, taumelte auf das SDS -Zentrum zu, rief laut nach Vater und Mutter und: »Ich muß zum Friseur, muß zum Friseur.« Nach einigen Metern brach er zusammen und sagte noch: »Soldaten, Soldaten.«
Josef Bachmann wurde nach wenigen Minuten von der Polizei festgenommen. In seinem Kellerversteck hatte er zwanzig Schlaftabletten geschluckt. Im Krankenhaus konnte er gerettet werden.
Rudi Dutschke wurde im Westend-Krankenhaus operiert. Die Ärzte kämpften um sein Leben.
Blitzschnell hatte sich die Nachricht vom Attentat in Berlin verbreitet.
Im SDS -Zentrum, vor dem inmitten eines Kreidekreises noch immer die Schuhe Rudi Dutschkes lagen, sammelten sich die Studenten. Es war totenstill. Keine lauten Diskussionen, keine aufrührerischen Reden. Schweigen aus Wut und Verzweiflung.
Eng gedrängt saß man zusammen. Einer berichtete, der SFB habe die Nachricht verbreitet, Rudi sei tot.
Um 18 . 30 Uhr strahlte der Rundfunk die Nachricht aus, Dutschke sei am Leben. Seine Chancen stünden fünfzig zu fünfzig. Jetzt erst regten sich im SDS -Zentrum leise Diskussionen. Was tun? Demonstrieren? Den Verkehr in Westberlin blockieren? Das Rathaus besetzen? Zum aktiven Widerstand aufrufen?
Plötzlich war allen klar, was man tun mußte: gegen den Axel Springer Verlag demonstrieren, die Auslieferung der Zeitungen verhindern.
Unter den Versammelten im SDS -Zentrum war auch die Kolumnistin von »konkret«, Ulrike Meinhof. Sie sagte kein Wort. Als alle aufbrachen, um zum Audimax der Technischen Universität zu gehen, wo eine ohnehin geplante Veranstaltung jetzt zu einem Forum des Protestes werden sollte, schloß sie sich an.
Der Saal war überfüllt mit zweitausend ratlosen, bedrückten, verzweifelten Menschen. Einige weinten.
Mit Rudi Dutschke war eine Symbolfigur niedergeschossen worden, einer, den alle, über die verschiedenen Fraktionen hinweg, verehrt, geliebt hatten. Es war ein Anschlag auf sie selbst, auf alle, auf die gesamte außerparlamentarische Bewegung.
Jemand gab bekannt, daß Springers Pressehaus an der Mauer in diesen Minuten mit Stacheldraht abgesichert werde. Gelächter brandete auf.
Bernd Rabehl vom SDS ging ans Mikrophon: »Das Springer-Haus ist jetzt schon mit Stacheldraht umgeben. Springer erwartet also unseren Angriff. Was wird uns dort erwarten? Wir werden auf Polizeiketten stoßen. Die Polizei wird sich aber heute zurückhalten, weil sie ein sehr schlechtes Gewissen hat …«
Der Wortlaut aller Redebeiträge auf dieser Veranstaltung blieb erhalten; die Berliner Sicherheitsbehörden schnitten jedes Wort auf Tonband mit und verwendeten es für Anklagen gegen die »Rädelsführer« der Springer-Demonstration. Weitere Einzelheiten erhielt die Staatsanwaltschaft später von einer ganzen Reihe Journalisten, die bereitwillig belastende Aussagen gegen Sprecher der Studenten machten.
Vor allem Rechtsanwalt Horst Mahler wurde bevorzugtes Ziel der staatsanwaltschaftlichen Aktivitäten. Obwohl er auf der Veranstaltung in der TU nicht gesprochen hatte und bei der Demonstration in der Kochstraße lediglich mitmarschiert war, ohne Steine zu werfen oder andere Gewalttaten zu verüben, wurde er später wegen schweren Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch und Hausfriedensbruch zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Prozeßkosten hatte er zu tragen.
Von der Technischen Universität aus bewegte sich der Demonstrationszug in Richtung Kochstraße. »Mörder! Springer – Mörder! Springer raus aus Westberlin! Bild hat mitgeschossen!«
Die Demonstranten hatten sich untergehakt, marschierten in breiter Front nebeneinander, trugen rote Fahnen und Fackeln.
Ulrike Meinhof hielt sich abseits. Sie fuhr mit einem »konkret«-Kollegen aus Hamburg zur Kochstraße. Vierzig bis fünfzig Demonstranten hatten sich dort schon versammelt, warteten auf das Eintreffen des großen Zuges. Einzelne parkten
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