Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
die Jugendlichen, um jedem fünf Mark am Tag für Essen zu geben. Ihr Engagement beeindruckte den Leiter des Jugendamtes, und er empfand das als einen Versuch, »an neuer Stelle die politische Arbeit sinnvoll fortzusetzen«.
Auch der Leiter des Diakonischen Werkes in Frankfurt unterstützte das Projekt und besorgte für Baader und Ensslin eine Wohnung. Vor allem von Gudrun war er sehr angetan: »Sie suchte das Gespräch. Wenn eine Begnadigung erfolgt wäre, hätte ich sie durchaus bei der Evangelischen Kirche angestellt, beim Diakonischen Werk als Sozialarbeiterin. Ich war an einer langfristigen konkreten Zusammenarbeit interessiert.«
Die Arbeit der Lehrlingskollektive selbst fand er dagegen nicht so überzeugend: »Sie hatten keine Zukunft, weil sie abhängig gewesen sind von den Studenten und nicht zu einem eigenen Selbstverständnis gekommen sind. Mein Eindruck über die Kollektive: Tags schliefen sie, nachts tobten sie, die meisten haben nicht gearbeitet.«
Die Fürsorgezöglinge wurden zur Zielgruppe revolutionärer Ambitionen. Es war der Beginn einer Allianz von Intellektuellen mit den Gefallenen am Rande der Gesellschaft: Rekruten für den Krieg der Bürgerkinder. In geschlossenen Erziehungsheimen wie dem Beiserhaus in Frankfurt saß nach ihrer Ansicht das Potential für eine revolutionäre Veränderung. Da paßte es gut, daß das Gericht den Angeklagten eine Tätigkeit im sozialen Bereich zur Auflage gemacht hatte.
Peter-Jürgen Boock war damals dabei. Baader und Ensslin hatten ihn nach der Flucht aus dem Beiserhaus in der Gruppe aufgenommen. Boock später: »Das Ziel des Kampfes war ganz klar die Veränderung dieser Gesellschaft mit allen Mitteln … also eben auch mit Mitteln des bewaffneten Kampfes.«
Staatlich geförderte Sozialarbeit als Rekrutierungsstätte für junge Revoluzzer.
Auch der deutsch-französische Studentenführer Daniel Cohn-Bendit erkannte die Pläne hinter der Sozialarbeit: »Baader hatte sich schon als General der Roten Armee gesehen. Und da waren seine Soldaten. Ich meine, Achtzehnjährige: Das ist das Alter, mit dem die Bolschewiki die Russische Revolution gemacht haben. Das waren die Phantasien, mit denen gespielt wurde. Ensslin hat alles gemanagt, und Baader hat einfach den Flair der Revolution versucht zu vermitteln. Nicht nur versucht, er hatte es ja auch geschafft bei diesen jungen Machos.«
22. Peter-Jürgen Boock
Seine Eltern hatten eine Kneipe, irgendwo hinterm Deich in Schleswig-Holstein, als Peter-Jürgen Boock am 3 . September 1951 geboren wurde. Gerade zwei Jahre zuvor war sein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Er bewarb sich bei der neugegründeten Bundeswehr, wurde aber nicht genommen und ging statt dessen zur Bundespost nach Hamburg. Peter blieb für zwei Jahre bei seiner Großmutter, dann holten die Eltern ihn nach. Die Kleinstadt, die ihm vorgekommen war wie der »größte Spielplatz der Welt«, mußte er nun gegen eine Trabantenstadt am Rande von Hamburg tauschen. Zwischen hoch aufragende Wohnblocks für Sozialhilfeempfänger hatten die Stadtplaner eine Reihenhauskolonie für Staatsdiener gesetzt.
Hier wuchs Peter auf, unauffällig bis in die wilden sechziger Jahre. Ein Biologielehrer, der in der »Jailhouse Jazzband« spielte, machte ihn mit der musikalischen Untergrundszene bekannt. Doch dann wurde auch Boock von der allgegenwärtigen Politisierung gepackt. Mit knapp fünfzehn Jahren gründete er ein »Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler«, abgekürzt AUSS , die Schülerorganisation des SDS . Die Eltern hatten bald den Eindruck, Lenin persönlich sei bei ihnen eingezogen, die Konflikte eskalierten, und eines Tages beschloß Peter, in die DDR zu gehen. Bei Lauenburg schlich er sich durch den Minengürtel ins Arbeiter- und Bauernparadies. Er wollte zu seinem Onkel, brachte es aber nur bis in ein Auffanglager der DDR . Weil er noch nicht sechzehn war, schickte man ihn zurück in den Westen. Wäre er älter gewesen, hätte er bleiben dürfen – und sich und anderen vermutlich viel erspart.
Nach der Rückkehr besserte sich das Verhältnis zum Vater nicht gerade. Der sprach – als Ausgleich für die eher langweilige Schaltertätigkeit bei der Post – abends gern dem Alkohol zu. Dann wurde er nicht selten grob. Inzwischen war die Großmutter ins Haus der Familie gezogen. Sie hatte Rheuma, und als sie begann, unter den massiven Schüben der Krankheit zu leiden, übernahm Peter die Pflege. Er liebte die alte Frau,
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