Der Babylon Code
zusammen, dass der Stoff im Rücken spannte.
»Ich verstehe ja noch, dass er im Augenblick keine Privataudienz wünscht wegen der vielen Zuhörer, Lauscher und Flüsterer in dieser Schlangengrube. Deshalb habe ich mich ja hier einquartiert, damit wir uns wie zufällig treffen. Warum nun dieser Sinneswandel?«
Tizzani fixierte einen Punkt an der Wand.
»Es gibt mehr als zweitausend Ordensgemeinschaften«, zischelte Marvin giftig. »Warum werden wir nicht in diesen Stand erhoben? Keiner der Orden ist wie wir. Nach den neuesten Zahlen sind wir schon mehr als hundertfünfzigtausend Mitglieder. Wir sind größer als Opus Dei. Die Laienbrüder der
Prätorianer der Heiligen Schrift
erobern die Welt. Unser Zulauf ist ungebrochen. Jeden Tag kommen treue Seelen zu uns, die unverbrüchlich an die wortwörtliche Wahrheit glauben, wie sie in der Heiligen Schrift niedergeschrieben ist. Sie würden ihre Seele dafür hergeben, um die Heilige Schrift gegen jeden zu verteidigen.«
Tizzani sah die eiskalten Augen und stöhnte innerlich auf.
»Wir wachsen schneller als das Opus Dei in seinen besten Zeiten. Wir stehen für die Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift. Wir geben den Menschen ein Zuhause, einen Schutz vor der Auflösung und allgemeinen Haltlosigkeit. Wir interpretieren die Schrift nicht, wir nehmen ihre Worte, wie sie sind.«
Tizzani nickte. Die Laien der
Prätorianer der Heiligen Schrift
kämpften radikal gegen den Zerfall der kirchlichen Werte. Mit Erfolg.
Sogar unter den Protestanten in den Vereinigten Staaten, die die Worte der Bibel wortwörtlich nahmen und deren Anhängerschar mittlerweile zig Millionen umfasste, rekrutierte der Laienorden neue Anhänger und zog sie wieder in die Arme der einzigen, der wahren Kirche.
»Wir sind diejenigen, die nicht den Protestanten den Kampf gegen die Lügen der Wissenschaft überlassen, wir sind das neue Schild und Schwert der katholischen Kirche. Wir tun das, was Mutter Kirche eigentlich schon längst tun müsste.«
Henry Marvin löste die Hände von Tizzanis Brust und lehnte sich zurück.
Der Monsignore atmete tief durch. Er hatte am Abend zuvor das umfangreiche Dossier gelesen, das der Laienrat der Kurie über die Laienorganisation zusammengestellt hatte.
Marvin war schon lange Motor und faktischer Herrscher in der Laienbruderschaft, die ein gläubiger katholischer Vater aus San Diego Anfang der Siebzigerjahre spontan gegründet hatte, weil sein Sohn wieder einmal verstört und weinend von seinen Zweifeln erzählt hatte. In der Schule hatten Lehrer die schönen biblischen Geschichten von der Entstehung des Menschen mit den Zufallsmutationen der Evolutionstheorie zertrümmert.
Henry Marvin war einer der ersten hundert Gläubigen gewesen, die der Laienbruderschaft beitraten. Marvin war damals wie heute fest davon überzeugt, er habe als junger Mann den Vietnam-Krieg nur deshalb überlebt, um Gottes Wort in die Welt zu tragen.
Er hatte einen kleinen Verlag aufgebaut, dessen einziges Buch zunächst die Bibel war. Außerdem brachte er als Laienprediger Gottes Wort unter die von der Wissenschaft vergifteten Menschen.
Mittlerweile war Marvins Verlag einer der größten für katholische Schriften in Amerika. Bis hinunter nach Süd-und Mittelamerika verkaufte er sein Schriftgut, erfreute sich an dem Mitteilungsbedürfnis und der Lesefreude der christlichen Mitmenschen.
Der Ordensgründer war im letzten Jahr gestorben, und Marvin stand kurz davor, als Präfekt auch die formale Macht und Nachfolge des Gründers anzutreten.
Tatsächlich lag sie schon lange bei Henry Marvin. Er kontrollierte die Finanzen, mehrte den Reichtum der Bruderschaft, die sich selbst bereits als Orden bezeichnete. Marvin hatte Strukturen und Hierarchien eingezogen, die in einem Gremium aus geistlichen Führern und Laien mündeten, das wiederum er beherrschte.
Tizzani seufzte innerlich. Der Mann war ein gefährlicher Überzeugungstäter, der auch von immer mehr Bischöfen und Kardinälen unterstützt wurde, die der Erosion der Kirche entgegentreten wollten.
»Der Heilige Vater erkennt sehr wohl Ihre Anstrengung an, dem Glauben den gebührenden Platz zu erkämpfen.«
»Wohl wahr. Es ist ein Kampf.« Marvin starrte den Kurienboten böse an. »So fortschrittlich unsere Verfassung auch ist: Es ist unglaublich, dass in amerikanischen Schulen den Schülern das Gift der Evolutionstheorie hochdosiert gespritzt wird, Gottes Wort aber nicht unterrichtet werden darf. Und ich verstehe auch nicht, wie der Heilige
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