Der Babylon Code
rasiere mich nass. Heute Morgen war meine Hand extrem zittrig. Ich wusste, ich muss hier inquisitorische Fragen beantworten.«
»Na gut.« Es klang wenig überzeugt. Ihre Augen blitzten, und sie lächelte ihn an.
Sie streifte sich Einmal-Handschuhe über und nahm ihm den Knochen aus der Hand. Dann drehte sie sich mit dem Stuhl zur Seite und legte den Knochen auf die Auflagefläche.
»Sieht aus wie eine riesige Bohrmaschine«, sagte Chris. »Was ist das?«
»Ein Rasterelektronenmikroskop«, sagte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Er hörte an ihrem Tonfall, dass sie sich amüsierte. »Hat den Vorteil, dass wir vom Knochen keine dünn geschnittene Probe nehmen müssen wie beim Lichtmikroskop.«
Sie erklärte, dass das Mikroskop die Oberfläche schrittweise mit einem starken Elektronenstrahl abtasten würde.
»Die Abtastpunkte werden in einem Kollektor gesammelt und auf den Bildschirm gebracht. Jeder abgetastete Punkt wird ein Pixel auf dem Bildschirm. Das Ganze funktioniert wie der Bildaufbau auf einem Fernsehbildschirm.«
Ihre Stimme besaß einen leichten Akzent, was den angenehmen Klang noch unterstrich. Chris ertappte sich dabei, wie er auf ihren Nacken starrte, die zarten Linien der Halspartie aufsog.
»Wir tasten aber nur einen kleinen Ausschnitt ab«, sagte Wayne Snider, während sie konzentriert mit dem Heer von Schaltern, Reglern und Drehknöpfen hantierte, die Chris an ein Mischpult erinnerten.
»Es geht ganz schnell.« Sie drehte sich zu Chris um, und ihre Augen blitzten verschmitzt. Er spürte ein plötzliches Feuer, das nichts mit der Untersuchung zu tun hatte.
Schließlich kam das erste Bild auf die Monitore. Jasmin Persson steuerte das Bild des einen Monitors als stark vergrößerte Detailaufnahme aus, während der andere Monitor mehr eine Pauschalstruktur der aufgezeichneten Knochenstelle zeigte.
»Da – die kleinen Kreise, das sind die Osteone«, erklärte Wayne Snider ruhig. »Wie leicht verformte Hohlzylinder, in deren Mittelkanal die Blutgefäße verlegt sind.«
Chris sah auf dem Makrobild die ausgewählte Knochenoberfläche als solide und feste Masse.
»Osteone sind die Hauptfestigkeitsträger innerhalb der Knochen und in der Knochenperipherie zu finden. Also in der Knochenrinde«, sagte Wayne Snider sachlich in die eingetretene Stille. »Innerhalb der Osteone gibt es Kanäle. Osteone sind nichts anderes als ein Röhrensystem in Miniatur.«
Chris blickte auf den Monitor mit der Mikroaufnahme. Er sah die stark vergrößerte Knochendarstellung in einer Hell-dunkel-Struktur. Er erkannte kleine Ringe riesenhaft vergrößert.
»Und zwischen den Längskanälen gibt es wieder Querkanäle. Ein ausgeklügeltes System. Ein Wunderwerk!«
Es schien, als ob der Knochen aus vielen einzelnen, nicht vollständig ineinandergefügten Teilen zusammengesetzt wäre. Die Struktur erinnerte Chris an die Balken und Bohlen eines Blockhauses, denen die hundertprozentige Passgenauigkeit fehlte. Doch eine Struktur konnte er nicht durchgängig erkennen. Die Röhren tauchten im Knochen unregelmäßig auf.
»Sie verlaufen zur Knochenlängsachse. Immer in Richtung der einwirkenden Druckkräfte.«
Chris sah zur Seite. Sein Jugendfreund war jetzt in seinem Element. Voll auf die Untersuchung konzentriert, leicht vorgebeugt, die Hände auf den Tisch gestützt, schien er alles ringsum zu vergessen.
»Zwischen zehn und zwanzig Millimeter lang, im Durchmesser 150 bis 200 µm stark.« Wayne Snider sah fasziniert auf den Bildschirm. »Die Osteone wiederum bestehen aus bis zu zwanzig Lamellen, die sich aus parallelen Spiralen von Kollagen-Typ-1-Fibrillen aufbauen, und diese Spiralen verlaufen in benachbarten Lamellen gegenläufig und…«
»Wayne, hör mit dem Fachchinesisch auf«, sagte Jasmin Persson lachend, als sie Chris’ skeptischen Blick bemerkte.
»Genau.« Chris sah die Schwedin dankbar an. Keine Ursache, schien ihr Blick zu sagen. »Welche Bedeutung haben sie?«
»Du solltest wenigstens ihre Funktion kennen.« Snider schüttelte den Kopf. »Viel hast du aber nicht gelernt in deiner Kriminaltechnikausbildung.«
»Es sind die Hauptfestigkeitsträger der Knochen.« Jasmin Perssons Stimme klang samtig weich, und Chris lief plötzlich ein Schauer über den Rücken. »Sie befinden sich ständig im Umbau. Ändern sich die Druckverhältnisse im Knochen, etwa durch eine Verletzung wie bei einem Knochenbruch, dann passen sich die Osteone durch Umbau an.«
»Also muss sich jemand die Knochen brechen, damit
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