Der Babylon Code
verstehe ich auch, woher Sie so schnell das Bargeld haben. Ich war schon misstrauisch. Was ist das für einer?«
»Ein Verleger. Ein Mann, der der Kirche nahe steht.«
»Ach, dann ist Brandau sein Aufpasser. Jetzt verstehe ich.« Chris grinste zufrieden.
»Der Mann interessiert sich ganz besonders für die Vorderasiatischen Funde. Unterstützt uns, den Louvre und das Britische Museum. Er ist ganz verrückt nach allen neuen Ausgrabungsfunden und Forschungsergebnissen.«
»Sie graben immer noch?«
»Aber sicher. Im Moment ist es sehr gefährlich, aber wir haben die ganzen Jahrzehnte graben lassen – mit Unterbrechungen.«
»Warum ist der Mann so wild auf die Ausgrabungsergebnisse?«
»Er ist sehr gläubig. Verlegt kirchliche Schriften und ist, soweit ich das weiß, Mitglied eines kirchlichen Ordens.«
»Könnte der hinter dem Anschlag stecken?«
»Sie haben aber Gedanken.« Ramona Söllner schüttelte den Kopf. »Der Mann gibt doch nicht das Geld und überfällt uns dann.«
Chris steuerte den Wagen aus der Parklücke heraus. Sie hatten nun über eine Stunde gewartet.
»Ich zeige Ihnen jetzt alle Tafeln. Wir müssen nach Wilmersdorf.«
Die Straße war plötzlich belebt, überall Massen von Menschen, die den warmen Abend genossen und die Cafés und Kneipen bevölkerten.
»Mächtig was los«, sagte er.
»Oranienburger Straße. Vorn an der Kreuzung fahren Sie am besten rechts, dann wieder links.«
»Wo kommen wir dann hin?«
»Zum neuen Babylon dieser Stadt.«
Er folgte ihren Fahrhinweisen.
»Sie haben die Textfragmente genau studiert?«
»Selbstverständlich«, sagte Ramona Söllner und starrte Chris irritiert an.
»Dann erzählen Sie mir doch bitte noch etwas über die Knochen. Was hat Forster dazu gesagt? Was steht darüber in den Texten?«
Die Professorin lachte amüsiert auf.
»Knochen? Ich weiß nichts von Knochen. Davon höre ich jetzt das erste Mal.«
»Steht vielleicht etwas über die Knochen in der Übersetzung?«
Sie überlegte lange.
»Stimmt… Nebukadnezar sagt auf seinen Tontafeln, wenn denn der Inhalt der Abschrift stimmt –, dass er Kišh erobert und Heiligtümer aus dem großen Tempel Ninurtas in Kišh nach Babylon überführt habe. Er habe das Reich wieder geeint und die Gebeine des Hirten aus dem Tempel Ninurtas mitgenommen.«
»Wer ist Ninurta?«
Chris zuckte zusammen und hupte wild, als ihn auf der engen und verbauten Chausseestraße ein Wagen rasant überholte.
Ramona Söllner wartete mit der Antwort, bis er seine Flucherei einstellte.
»Ninurta war Stadtgott in Kišh, so wie Marduk der Stadtgott in Babylon war. Die Götterwelt damals war groß und sehr vielfältig. Für alles gab es einen besonderen Gott. Und andersherum vereinte ein Gott vieles in sich. Ninurta ist in der Götterwelt der sumerischen Geschichte Stadtgott, Kriegsgott, Fruchtbarkeitsgott, Vegetationsgott, Sohn des Windgottes, Sohn des Enlil, göttlicher Berater. Andere Quellen besagen, in ihm sei Zababa aufgegangen, der Stadtgott von Kivh. Ninurta brachte nach der Sintflut das Königtum nach Kišh. So steht es auf der einen Tafel.«
»Und wer war der Hirte, von dem Nebukadnezar sprach?«
»Vielleicht ein König. Es gab einen mit diesem Beinamen, der angeblich erstmals das sumerische Reich einte. Vielleicht ist aber auch ein Priester gemeint. Das Wort ist ja heute noch ein Synonym für eine Person, die auch in übertragenem Sinne die Herde behütet. Hirte war in der Frühzeit ein angesehenes, wichtiges Amt. In den Überlieferungen ist mit diesem Begriff eine Fülle von dichterischen Bildern verbunden. Hirten führten ein Nomadenleben; sie begleiteten die Herde, oft weit entfernt von den Wohnstätten, auf die kargen Felder und waren verantwortlich für den Bestand der Herde.« Sie hielt inne.
»Erzählen Sie weiter. Ich höre zu.«
»Aus all diesen Gründen sind die Tafeln ja so interessant. Es gibt bisher keine Texte aus der Zeit unmittelbar nach der Sintflut. Die bisher bekannten Aufzeichnungen datieren deutlich später, sie stammen aus der Uruk-Zeit. So vieles liegt im Dunkeln.«
»Wären solche Knochen wertvoll? Von einem König oder von diesem Gott… Ninurta?«
Ramona Söllner lachte laut auf.
»Wertvoll? Was heißt das? Was glauben Sie, wie viele Knochen bei den Ausgrabungen in Chorsabad, Susa, Babylon oder
Uruk zu Tage gefördert wurden. Jedes Grab, das man entdeckte, war voll davon. Und jeder gefundene Knochen ist wertvoll – natürlich ganz besonders, wenn man Reliquiensammler ist. Es
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