Der Bann des Zeitreisenden (German Edition)
kaum, ihrem eigenen Urteil zu trauen.
Also verdrängte sie das Verlangen, das durch ihre Adern schoss. Stattdessen entzog sie sich Rions Händen und stand auf. »Danke. Es war wirklich ein langer Tag. Ich muss jetzt in die Federn kriechen.«
»Gute Nacht, Marisa.« Er erhob sich ebenfalls und nahm sein Hemd. Als sie den Gymnastikraum verließ, rief er hinter ihr her: »Träum was Süßes.«
Es würde wohl kaum etwas Süßes sein. Etwas brennend Heißes kam da eher infrage.
2
Bisweilen wird er von Dingen reden, die sich noch ereignen werden …
denn er hat die Gabe des Sehers. Merlin
Wie immer flammte die Vision vor Rions Augen ohne Vorwarnung auf.
»Du wagst es, dich mir zu widersetzen?« Der Unari hob die Peitsche.
Sein Opfer, ein kniender Mann, neigte den Kopf.
Die Peitsche schwang, schnitt durch die Luft, biss in einen Rücken, der vom vielen Auspeitschen schon narbig war, und hinterließ einen blutigen Striemen.
Unter dem heftigen Schlag biss das Opfer die Zähne zusammen, stieß aber keinen Laut aus. Die Augen des Mannes waren matt vor Schmerz, er hielt den Kopf weiterhin gesenkt, sein ausgemergelter Körper zitterte.
»Steh auf.« Der blasierte Tonfall des Unari deutete an, dass er schon viele Männer ausgepeitscht hatte.
Dann dehnte sich die Vision aus; es war, wie wenn eine Kamera in die Totale fährt. Hell orangefarbene Schnittervögel schlugen mit den Flügeln und segelten hoch über der Wüste von Ehro dahin. Rion keuchte vor Entsetzen auf. Hinter den beiden Männern befanden sich noch Hundert, vielleicht sogar Tausend weitere verhungernde Ehronier, die unter den Peitschen der Unari eine gigantische Mauer errichteten.
»Steh auf, du Schnecke. Die Arbeit ruft!« Der Unari trat dem Mann brutal in die Hüfte.
Rion befand sich tief in Trance und zuckte zusammen. Er versuchte, den Mann allein durch seinen Willen zum Aufstehen zu bewegen.
Die Peitsche ging abermals auf ihn nieder; diesmal zerfetzte sie die Haut am empfindlichen Bauch. Mit einem schrecklichen Heulen zog er die Knie bis vor die Brust.
Als sich der Mann in Schmerzen wand, erkannte Rion deutlich ein halbmondförmiges Brandmal an seinem Arm.
Gütige Göttin! Rion kannte ihn. Avril war einmal ein Riese gewesen, ein Palastwächter.
»Auf die Beine mit dir! Steh auf, Sklave.«
»Sklave?« Mit Schwindelgefühlen tauchte Rion aus seiner Trance auf. Es dauerte einige Minuten, bevor er begriff, dass er das Aufblitzen einer furchtbaren Vision der Zukunft durchlebt hatte.
Rion, der gegenwärtig als Gast auf dem Planeten Erde im luxuriösen Hotel Trafalgar untergebracht war, wo er schon seit sechs Monaten auf Kosten der Vesta Corporation wohnte, lief auf und ab und ballte immer wieder die Fäuste.
Seit seiner Ankunft auf der Erde bemühte Rion sein ganzes diplomatisches Geschick, um die Vereinten Nationen dazu zu drängen, sich dem Kampf der Ehronier gegen die Unari anzuschließen. Bisher hatte er noch nicht genügend Stimmen von den einzelnen Delegierten gesammelt, die er für eine Beteiligung der Erde benötigte. Man war nicht einmal einverstanden, das Portal zu öffnen und ihn nach Hause zurückzuschicken, von der Finanzierung einer Armee gegen die Unari ganz zu schweigen.
Doch allmählich war seine Diplomatie an ein Ende gekommen. Es war ihm nicht gelungen, die Erde um Hilfe zu bitten.
Die Zeit zum Handeln war da. Und sein neuer Plan ging bisher recht gut auf. Es war kein Zufall gewesen, dass er gestern Abend auf Marisa getroffen war. Zuerst war sie misstrauisch gewesen, denn schließlich war sie eine kluge Frau, aber nach der Schultermassage konnte er sich ziemlich sicher sein, dass sie ihn jetzt nicht mehr nur als Lucans Freund betrachtete.
Doch bis zum Schließen des Abkommens würde es noch eine Weile dauern.
Die Zwillingsschwester seines besten Freundes … Sie war ärgerlich vorsichtig, dabei höchst intelligent, gesegnet mit einer seltenen telepathischen Gabe – und hatte ohne jeden Zweifel alle Rundungen am richtigen Ort. Sie hatte es verdient, von einem wirklichen Gentleman in Londons bestes Restaurant ausgeführt und dort mit Speis und Trank verwöhnt zu werden.
Sein Gewissen rührte sich, aber er durfte sich nicht den Luxus leisten, seine eigenen Handlungen anzuzweifeln. Nicht nach den Schrecken, die er gesehen hatte.
Bei der Göttin, er hatte genug vom politischen Gezänk und der Unentschiedenheit, die in England herrschten. Die unbedingte Notwendigkeit, nach Hause zu reisen und die
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