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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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diesem Tag reichlich Energie benötigen.
    Er steckte die Papiertüte weg und klopfte sich Gebäckkrümel von der Kleidung, dann griff er in seinen Mantel und zog seine Uhr hervor. Er ließ den goldenen Deckel aufspringen und kontrollierte die Zeit: Viertel vor acht. Wenn ihn sein Glück nicht im Stich ließ, würde er Albert Bauer irgendwann im Verlauf der nächsten fünf Minuten beim Überqueren des Platzes erspähen. Der Chemiker, so hatte Jakab herausgefunden, war ein äußerst pünktlicher Mensch.
    Aus Gewohnheit drehte Jakab die Uhr um und fuhr mit dem Daumen über die Inschrift auf der Rückseite.
    Balázs Lukács
    Végzet 1873
    Vierundfünfzig Jahre, nachdem sein Vater ihm diese Uhr in ihrer Kutsche vor dem Palast in Buda geschenkt hatte, zeigte sie immer noch zuverlässig den Lauf der Zeit an. Wie viele Male war er mit dem Finger die geschwungenen Linien der Gravur nachgefahren? Selbst heute noch, über ein halbes Jahrhundert später, weckten die Worte Emotionen in ihm, denen er sich lieber nicht stellen wollte. Er erinnerte sich an die Klinge seines Vaters, die eine feurige Linie über seine Kehle zog. Das Blut.
    Jakab klappte die Uhr zu und schob sie zurück in die Tasche.
    Er blickte auf, suchte die vor Kälte geröteten Gesichter der den Platz überquerenden Menschen ab, und dann erspähte er Albert, wie er aus der Richtung des Feuerturms in seine Richtung eilte. Eine Woge der Erregung rollte über ihn hinweg. Jakab rappelte sich hoch und schüttelte die Taubheit aus den Beinen, wo sie gegen die kalten Stufen gedrückt hatten.
    Albert trug keinen Hut. Er war in einen schweren wollenen Übermantel gehüllt, der unvorteilhaft an seiner großen Gestalt schlackerte. Sein Schädel war scharfkantig. Zusammen mit der Hakennase ähnelte er einem Falken. Jakab hatte Alberts Gesichtszüge im Verlauf der letzten Monate unzählige Male studiert. Er kannte jede Falte und jedes Grübchen, die präzise Form der abstehenden Ohren, die Linie seiner dünnen Lippen. Wie üblich hatte Albert sein Haar pomadisiert und auf einer Seite gescheitelt. Jakabs Frisur sah ganz genauso aus.
    Er wartete, bis der Chemiker vorbei war, dann folgte er ihm. Er beabsichtigte lediglich, Albert bis zu seinem Arbeitsplatz zu folgen: Er musste herausfinden, ob der Mann seiner üblichen Routine nachging oder nicht …
    Genießt du den kalten Winter, Albert? Denkst du an deine junge hübsche Verlobte? Ich frage mich, ob sie dir gestanden hat, dass sie keine Jungfrau mehr war. Ich frage mich wirklich, ob sie dir dieses kleine Geheimnis anvertrauen wird. Keine Sorge, Albert – ich teile dieses Wissen früher, als dir lieb ist.
    Vor ihm bog Albert auf die Kolostor utca ab. Jakab folgte ihm zwei weitere Straßen hinunter, bis er schließlich die Treppen eines großen cremefarbenen Gebäudes hochstieg, das zugleich Apotheke und privates Laboratorium war.
    Zufrieden wandte sich Jakab um und kehrte zum Hauptplatz zurück, wo er in einer Seitenstraße seinen Wagen geparkt hatte: einen weinroten Mercedes  630 K. Kein Fahrzeug, das geeignet war für diese Art von Arbeit, doch Jakab hatte es in einem Ausstellungsraum in München gesehen und war hin und weg gewesen von all dem glitzernden Chrom und der kraftvollen Linienführung. Der kompressorgeladene Sechszylinder entwickelte 140   PS und erreichte damit Geschwindigkeiten von mehr als hundertvierzig Stundenkilometern – nicht dass Jakab auf den Straßen und Wegen von Sopron auch nur annähernd so schnell hätte fahren können.
    Jakab startete den Wagen und folgte dem Verlauf der Straße in südöstlicher Richtung aus der Stadt hinaus und zu der Villa, wo Erna Nováks Enkeltochter zusammen mit ihren Eltern Carl und Helene Richter sowie ihrem Großvater Hans lebte.
    Die Jahrzehnte nach Ernas Tod waren an ihm vorbeigeglitten in einer Fuge aus Bitterkeit, Leid, Wut und Trauer. Jakab hasste die ganze Welt, tobte wegen ihrer Ungerechtigkeit. Es waren die schwarzen Jahre – die verlorenen Jahre. Er hatte sich gehen lassen, war zum Opfer der Ereignisse geworden, anstatt sie zu beherrschen.
    Er erinnerte sich nur an wenige Einzelheiten aus dieser Zeit, und woran er sich erinnerte, das entsetzte ihn. Er hatte jedes Laster, jede Verderbtheit ausgekostet bis zum Überdruss. Als er endlich geheilt und klaren Kopfes zurückgekommen war, waren nahezu fünfzig Jahre vergangen. Er fragte sich, wie es möglich war, dass so ein riesiger Zeitraum beinahe unbemerkt vergehen konnte. Egal – wie lange er auch gebraucht

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