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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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versuchte zu begreifen, was sie soeben gesehen hatte. Die Luft selbst schien zu summen und zu schreien. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Gabriel langsam zu sich kam, und sie überlegte kurz, ob sie ihn erschießen sollte, bevor alles noch komplizierter wurde.
    Sie starrte erneut aus dem Fenster. Ihr Vater – nein, definitiv nicht ihr Vater, so viel war jetzt klar – sah zum Farmhaus. Er hatte die Pistole gesenkt und hielt ein Handy ans Ohr.
    Die Luft schrie und summte noch immer. Hannah wurde bewusst, dass das Schreien von Leah kam. Sebastien hatte ihre Tochter an sich gezogen und hielt sie fest. Das Summen kam von Hannahs Handy auf dem Tisch. Hannah ging ran.
    «Bevor du wütend wirst: Du musst zugeben, dass er zuerst geschossen hat», sagte Jakab. «Ironischerweise mit dieser Waffe hier. Ich habe alles ehrlich gemeint, Hannah, was ich vorhin zu dir sagte. Aber ich konnte ihm das nicht durchgehen lassen.»
    Hannah ließ das Handy fallen. Sie war sich vage des Schreis bewusst, der aus ihrer Kehle stieg und sie zerriss. Sie wirbelte herum. Ihr Verstand wollte nicht arbeiten. Irgendwie war sie im Flur, fummelte am Schloss der Haustür. Dann war sie draußen, rannte über den Schotterweg zu ihrem Mann, zu der Kreatur mit dem Gesicht ihres Vaters.
    Als Jakab sah, dass sie bewaffnet war, wandte er sich zum Pick-up. Hannah hielt inne, zielte mit der Flinte und feuerte. Es war eine instinktive Reaktion. Sinnlos. Sie war viel zu weit entfernt für einen wirkungsvollen Treffer.
    Sie rannte weiter.
    Jakab riss die Fahrertür auf und kletterte hinter das Steuer. Hannah rannte weiter, kam immer näher. Das Fahrzeug erzitterte, als der Motor hustend zum Leben erwachte. Hochdrehte. Die Räder drehten im Rückwärtsgang durch, wirbelten Schotter auf, und der Wagen setzte rückwärts über die Brücke. Hannah hob die Waffe und feuerte erneut. Diesmal flog ein großes Stück Windschutzscheibe heraus. Der Pick-up schwang auf quietschenden Reifen herum, bis er den Hügel hinauf in Richtung Hauptstraße zeigte. Dann beschleunigte er.
    Hannah hörte ein anhaltendes Donnern hinter sich. Nein, kein Donnern. Etwas anderes. Hufe, die auf Schotter trommelten. Das Geräusch wurde lauter.
    In einer verschwommenen Bewegung jagte Gabriel vorbei, tief geduckt über seinem Pferd. Das Tier sprang mit einem mächtigen Satz über die Brücke und landete in einem Schauer von Steinen. Es jagte hinter Jakabs Wagen her und wurde noch schneller.
    Innerhalb weniger Sekunden waren Pick-up, Pferd und Reiter hinter dem Kamm verschwunden.
    Stille kehrte ins Tal zurück.
    Hannah ließ die Flinte fallen. Sie ging zu ihrem Mann. Kniete neben ihm nieder.
    Nates Augen waren offen. Sie ergriff seine Hand.
    Die erste Kugel hatte sein Brustbein zerfetzt. Die zweite seine rechte Brust durchbohrt. Unter den unregelmäßigen Eintrittslöchern sah sie zersplitterte Knochen, zerrissenes Fleisch. Ein See aus Blut lief unter Nate hervor. «Oh, Nate, mein Liebster, mein Leben! Was hat er getan, was hat er nur getan! Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein!»
    Nate ergriff ihre Hand. Er öffnete den Mund, versuchte zu sprechen.
    Hinter ihr hörte sie Schritte, Leute, die näher kamen, doch das war jetzt nicht wichtig. Nichts war wichtig. Nicht jetzt.
    Sie starrte Nate in die Augen und sagte ihm immer wieder, wie sehr sie ihn liebte. Sie hielt seine Hand und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Es dauerte noch eine Minute. Dann war er gestorben. Und es war vorbei.

Kapitel 20
    Sopron, Ungarn
    1927
    J akab saß auf dem Hauptplatz von Sopron auf den Stufen der barocken Pestsäule und sah den Einwohnern der Stadt dabei zu, wie sie ihren morgendlichen Geschäften nachgingen, gekleidet in lange Mäntel und Hüte und Handschuhe. Dampf stieg von ihren Gesichtern auf. Die vergangene Nacht war wolkenlos gewesen, und der klare Himmel hatte jegliche Wärme aufgesogen, die in den Straßen der Stadt verblieben war. Jetzt erstrahlte der Himmel in kühlem Blau, wie mit einer Keramikglasur überzogen.
    Jakab öffnete die Papiertüte in seinem Schoß und riss einen weiteren breiten Streifen Strudel ab, um ihn sich in den Mund zu stopfen. Das Gebäck war wunderbar warm und aromatisch: gezuckerter Apfel, Zimt, Muskat, Nelken. Einige Tage zuvor hatte er eine österreichische Bäckerei auf der Várkerület entdeckt, die den besten Strudel machte, den er je gekostet hatte. An diesem Morgen hatte er drei davon erstanden, und nicht nur allein des Geschmacks wegen: Sein Körper würde an

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